Am eigenen Leib

Diese Präventionskampagnen setzen auf Emotion statt Belehrung.

 

22.09.2016

Um tödlichen Autounfällen vorzubeugen, setzen internationale wie nationale Präventionskampagnen auf Emotionen statt Belehrung.

Einen toten Körper vor sich liegen zu sehen, die kalten Glieder zu berühren oder gar den Leichnam zu waschen, ist wohl eine der einprägsamsten  Erfahrungen und macht bewusst, dass das Leben vergänglich ist. In einem Land, dessen Straßen zu den gefährlichsten der Welt gehören, plant die Regierung auf genau diesem Wege, notorische Verkehrssünder zur Vernunft zu bringen.

Tag für Tag sterben in Thailand im Schnitt 39 Menschen bei einem Verkehrsunfall. Doch das als „Woche der Gefahr“ bekannte Neujahrsfest Songkran bereitet den thailändischen Behörden besonders große Sorge. Der Brauch sieht vor, älteren Familienmitgliedern kleine Mengen Wasser über die Hände zu gießen, um ihnen Respekt zu erweisen. Insbesondere in den Metropolen wie Bangkok herrscht jedoch während der Feierlichkeiten Ausnahmezustand: Zu Tausenden strömen Thais und Touristen gleichermaßen auf die Straßen, trinken, feiern und liefern einander regelrechte Wasserschlachten. Passanten, Autos, Motorräder – alles wird nass gespritzt. Der Alkohol fließt ebenfalls in rauen Mengen.

Schätzungen zufolge kommen während des Neujahrsfests 2,3 Menschen im Verkehr zu Tode – jede Stunde. Für 2016 fällt die Bilanz wieder erschütternd aus. Das Road Safety Directing Centre meldet 442 Tote und 3.656 Verletzte. Als Hauptunfallursachen gibt die Behörde Alkohol am Steuer (34 Prozent) und überhöhte Geschwindigkeit (33 Prozent) an. Die thailändische Regierung will daher im Kampf gegen Verkehrssünder zu drastischen Mitteln greifen: Wer wiederholt zu schnell oder alkoholisiert fährt, der könnte schon bald zum Strafdienst ins Leichenschauhaus beordert werden. „Beim Waschen und Transportieren der Leichname kann man den physischen und psychischen Schaden, der bei tödlichen Verkehrsunfällen entsteht, mit eigenen Augen sehen“, erklärt Anurak Amornpetchsathaporn, Sprecher der thailändischen Gesundheitsbehörden.

 

 

Die Folgen von Leichtsinn und Fahrlässigkeit erlebbar machen

Auch in Deutschland gibt es Aufklärungskampagnen, die unter die Haut gehen – wie etwa Crash Kurs NRW. 521 Menschen starben in Nordrhein-Westfalen letztes Jahr im Straßenverkehr. Unter den Verursachern von schweren Unfällen ist der Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen überproportional hoch. An sie richtet sich daher das Präventionsprogramm, das Schulen in Zusammenarbeit mit der Polizei NRW durchführen, in besonderem Maße.

Seit 2010 berichten Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte, Seelsorger oder Angehörige mit erschreckenden Erzählungen und Fotos von realen Unfällen aus den Heimatorten der Schüler. Die fatalen Folgen von Leichtsinn und Fahrlässigkeit im Verkehr sind dadurch plötzlich ganz nah und erlebbar.

Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind nicht wiederkommt – das lässt niemanden kalt.

„Wir versuchen die Schülerinnen und Schüler auf emotionaler Ebene zu erreichen“, erläutert Anja Daniel. Die Polizeihauptkommissarin der Beratungsstelle für Verkehrssicherheit der Polizei NRW engagiert sich selbst seit einigen Jahren für den Crash Kurs NRW. „Das Besondere an dem Programm ist, dass die Akteure auf der Bühne die Hosen herunterlassen. Wenn etwa ein Notfallseelsorger beschreibt, wie es sich anfühlt, mitten in der Nacht an einer fremden Tür zu klingeln, um den Eltern zu erklären, dass sie nicht mehr auf ihr Kind warten müssen, lässt das niemanden kalt.“ Das Erlebte arbeiten die Schüler im Unterricht noch einmal auf. Das Schulministerium sowie die Universität zu Köln stellen hierfür Informationsmaterialien zur Verfügung. Crash Kurs NRW hat im gesamten Bundesland mit mehr als 2.000 Veranstaltungen schon 500.000 Jugendliche persönlich erreicht.

Wie wichtig Präventionsmaßnahmen gerade für junge Menschen sind, zeigen aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Im Jahr 2015 verunglückten 19.820 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren im Straßenverkehr – das sind im Schnitt 54 am Tag. 72 Jugendliche verloren bei Verkehrsunfällen ihr Leben. In Relation zur Gesamtbevölkerung ist diese Altersgruppe besonders gefährdet. Nur drei Prozent der deutschen Bürger waren 15- bis 17-Jährige. Unter den im Verkehr Verunglückten machten sie jedoch einen Anteil von fünf Prozent aus. Jeder zweite Jugendliche, der an einem Verkehrsunfall mit Personenschaden beteiligt war, hatte diesen selbst verursacht. Am häufigsten fiel diese Gruppe durch überhöhte Geschwindigkeit auf.

Junge Erwachsene sind besonders gefährdet

Die mit Abstand am stärksten gefährdete Gruppe bilden indes junge Erwachsene. Von allen im Jahre 2014 in Deutschland verstorbenen Personen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren kam jeder vierte bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die meisten jungen Erwachsenen verunglücken mit einem PKW. Drei von vier getöteten Insassen fuhren das Auto selbst. Häufigster Fehler auch hier: unangepasste Geschwindigkeit. In dieser Risikogruppe dürfen sich Anja Daniel und ihre Kollegen bereits über erste Erfolge freuen. „In NRW ist bei den 18- bis 24-Jährigen die Zahl der Unfälle, vor allem in Zusammenhang mit Alkohol und Drogen, seit drei Jahren rückläufig.“ 

Don’t risk your fun

Welche tragischen Folgen leichtsinniges Verhalten im Straßenverkehr haben kann, möchte auch das Präventionsprogramm P.A.R.T.Y. nachdrücklich vermitteln. Schulklassen vollziehen beim Rundgang durch eine Unfallklinik den Weg eines Opfers nach – vom Rettungshubschrauber über Schockraum und Intensivstation bis hin zu einem Gespräch mit einem ehemaligen Trauma-Patienten, der anschaulich schildert, welche Wendung sein Leben nach dem Unfall genommen hat.

„Für die Schüler beginnt der Besuch im Unfallkrankenhaus zunächst heiter, wie jeder andere Ausflug auch. Doch im Laufe des Tages werden sie immer stiller“, beschreibt Ulla Krause. Sie ist die Leiterin der nationalen Koordinierungsstelle von P.A.R.T.Y. bei der AUC – Akademie der Unfallchirurgie in München im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). „Wir kommen den Schülern nicht mit dem erhobenen Zeigefinger“, sagt Krause. „Stattdessen wollen wir sie zum Nachdenken anregen: Ist es das Risiko wirklich wert?“ Die Grundidee zu P.A.R.T.Y. – das Akronym steht im Übrigen für „Prevent Alcohol and Risk Related Trauma in Youth“ – entstand 1986 in Kanada. Von dort aus ging das Programm um die Welt. Mittlerweile gibt es über 100 Standorte in fünf Ländern. Auch der Crash Kurs, der ursprünglich aus England stammt, ist ein Erfolg. Nach der flächendeckenden Einführung in NRW etabliert sich das Programm derzeit in Mecklenburg-Vorpommern.

 

Fotos: getty images, Caroline Seidel/dpa, Michael Latz/dpa