Die Quersteher
Eine traurige und gefährliche Entwicklung: Immer wieder werden Rettungsgassen blockiert und Helfer bei der Arbeit behindert.
24.07.2018
Wer Opfer eines schweren Autounfalls wird, ist auf unverzügliche Hilfe angewiesen. Immer öfter werden die Rettungsarbeiten jedoch behindert – von Schaulustigen, die Helfern den Weg versperren. Für die Rettungskräfte und die Unfallbeteiligten ist diese Entwicklung ein ernstes Problem – das im schlimmsten Fall Menschenleben kostet. Für „Runter vom Gas“ berichten Betroffene von ihren Erfahrungen.
Raimund Merkle liegt auf der Autobahn und kämpft um sein Leben. Milz- und Lungenriss, Halswirbelbruch, zwei gebrochene Arme sowie innere Verletzungen: So wird die Diagnose später lauten. Der Chef einer Gerüstbaufirma ist am 17. März 2017 bei Bauarbeiten auf der A5 in Hessen aus fünf Metern Höhe von einer Brücke gestürzt. Erst nach 16 Tagen wird er aus dem Koma erwachen. Merkle hat Glück. Großes Glück.
Raimund Merkle wird von den Rettungskräften versorgt
Die Fahrspur der Autobahn, auf die der 49-Jährige stürzt, ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Dies rettet ihm wohl das Leben. Und Walter Gaber. Der Chefarzt der Flughafenklinik in Frankfurt am Main fährt auf der Gegenfahrbahn, als er Merkle von der Brücke fallen sieht. Er verlässt die Autobahn an der nächsten Ausfahrt, wendet und fährt zurück zur Unfallstelle. Dort leistet er Erste Hilfe.
Merkle stürzte auf einen abgesperrten Teil der A5
Als um 16.29 Uhr in der Leitstelle in Groß-Gerau bei Frankfurt am Main der entsprechende Notruf eingeht, macht sich Theo Herrmann bereit. Er gehört zu dem Großaufgebot, das Merkle zu Hilfe eilt. Der stellvertretende Stadtbrandinspektor fährt zunächst auf die Wache der Freiwilligen Feuerwehr, zieht seine Schutzkleidung an und macht sich auf den Weg: Mit 16 Helfern in vier Wagen – inklusive Notarzt.
Als sie die Autobahn erreichen, hat sich vor der Unfallstelle bereits ein Stau gebildet. Einige Polizeifahrzeuge sind zwar noch durch die Rettungsgasse gekommen, doch als Herrmann mit den Helfern dort ankommt, ist die Fahrbahn schon wieder dicht. Der Grund: Zahlreiche Autofahrer sind den Polizeiwagen durch die Gasse gefolgt und vor der Unfallstelle zum Stehen gekommen. Die Folge: Die Gasse ist blockiert. Zu diesem Zeitpunkt trennen die Helfer noch 800 Meter von dem Verunglückten.
„Wenn Dr. Gaber nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt wohl tot.“
Der Notarzt
Während die Feuerwehr versucht, die Rettungsgasse neu zu bilden, läuft der Notarzt mit seinem Koffer die Strecke gezwungenermaßen zu Fuß. Knapp zehn Minuten gehen dadurch verloren. Zehn Minuten, die für Unfallopfer den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen können. Zehn Minuten, in denen Raimund Merkle um sein Leben kämpft. „Wenn Dr. Gaber nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt wohl tot“, sagt er heute.
Der Feuerwehrmann
Seit 45 Jahren ist Theo Herrmann bei der Freiwilligen Feuerwehr und hat schon einiges gesehen. Doch dieser Tag hat besondere Spuren bei ihm hinterlassen: „Was dort passiert ist, habe ich noch nicht erlebt“, sagt der 59-Jährige. 30 Anzeigen wird die Polizei später erstatten – wegen Behinderung der Einsatzkräfte.
Trotz der geglückten Rettung bleibt eine Frage offen, die bei jeder nicht gebildeten oder blockierten Rettungsgasse im Raum steht: Warum stellen sich Autofahrer häufig quer und blockieren die Rettungsgasse? Ist es ein zunehmender Egoismus oder Rücksichtslosigkeit? Gedankenlosigkeit oder Unwissen? Aus den zahlreichen Einzelfällen lässt sich ein Trend ableiten, den vor allem jene beobachten, die täglich zur Rettung von Menschenleben ausrücken: Polizisten, Feuerwehrleute, Notärzte und Mitarbeiter von Rettungsdiensten. Sie alle berichten immer häufiger von schlecht gebildeten Rettungsgassen, von Fahrern, die Einsatzfahrzeugen folgen, von Gaffern, die an der Unfallstelle filmen und Helfer behindern.
2017 behinderten Unbeteiligte bei zahlreichen Unfällen die Rettungskräfte. Ein Auszug:
8. Mai: Sieben Verletzte nach einem Unfall auf der A7 im Kreis Fulda. Drei Personen werden mit dem Rettungshubschrauber ausgeflogen. Der Grund: Es wurde keine Rettungsgasse gebildet.
10. Mai: Ein Geisterfahrer rast auf der A5 beim Hattenbacher Dreieck in ein entgegenkommendes Auto. Verkehrsteilnehmer behindern die Helfer durch eine schlecht gebildete Rettungsgasse.
19. Juli: Mehrere Fahrzeuge, darunter ein 40-Tonner, wenden auf der A10 bei Falkensee und fahren zwei Kilometer gegen die Fahrtrichtung durch die Rettungsgasse zur Ausfahrt. Dabei hinterlassen sie eine Öllache von 700 Metern Länge.
22. Juli: Drei Autos kollidieren auf der A3 bei Limburg. Unbeteiligte verlassen ihre Fahrzeuge, um das Unglück zu filmen.
Ein Fall, der besondere mediale Aufmerksamkeit auf sich zog, ereignete sich im Zuge eines schweren Busunglücks auf der A9. Am 3. Juli fuhr ein Reisebus aus Sachsen bei Münchberg auf einen Lkw auf. Der Bus fing Feuer und brannte innerhalb kürzester Zeit vollständig aus. Für 18 Insassen kam jede Hilfe zu spät. Auch hier wurde die Rettungsgasse schlecht gebildet. Zudem beeinträchtigten Neugierige auf der Gegenfahrbahn den Verkehr, weil sie zu langsam an der Unfallstelle vorbeifuhren. Auch dieser Fall zeigt, wie fahrlässig manche Verkehrsteilnehmer mit dem Leben anderer umgehen.
„Volksfestartige Stimmung herrschte da.“
„Dieses Verhalten an Unfallstellen ist inzwischen an der Tagesordnung“, sagt Gerhard Grad. Als der stellvertretende Dienststellenleiter am 8. Mai um 7:20 Uhr seinen Dienst in der Verkehrspolizei-Inspektion in Feucht bei Nürnberg antritt, nimmt er eine Meldung von drei Unfällen innerhalb von vier Kilometern auf der A6 auf. Mit der Routine von 37 Jahren im Polizeidienst macht er sich bereit: Uniformjacke anziehen, Einsatztasche packen. Funkgerät, Dienstwaffe und Warnschutzjacke mitnehmen, losfahren.
Am Ende des Tages ist Gerhard Grad fassungslos. „Absolut beklemmend“, berichtet er später. Was ihn belastet, ist nicht nur die Bilanz des Tages: Ein Schwerverletzter, ein Leichtverletzter sowie sieben Stunden Vollsperrung auf der A6 mit bis zu 18 Kilometern Stau. Es ist vor allem die Rücksichtslosigkeit der übrigen Verkehrsteilnehmer, die ihn so entsetzt.
Animationsfilm „Regeln für die Rettungsgasse“
So bildet man die Rettungsgasse
Die Rettungsgasse sollte schon bei stockendem Verkehr gebildet werden. Auf zweispurigen Straßen gilt: Wer auf der linken Spur fährt, manövriert seinen Wagen so weit wie möglich nach links, wer auf dem rechten Fahrstreifen unterwegs ist, so weit es geht nach rechts. Bei mehr als zwei Spuren lenken Fahrer auf der äußersten linken Spur ihren Pkw nach links, alle anderen nach rechts. Den Standstreifen sollte man – soweit möglich – freihalten. Die Rettungsgasse muss so lange aufrechterhalten werden, bis die Unfallstelle freigegeben ist und der Verkehr wieder rollt. Anschließend langsam losfahren und erst überholen, wenn der Verkehr wieder fließt.
Woran sich Gerhard Grad ebenfalls erinnert, wenn er an den 8. Mai zurückdenkt, ist ein Getränkelaster, der auf einen anderen Lkw aufgefahren ist. Der Lastzug steht quer, der Anhänger ist umgekippt. Dosen und Flaschen liegen auf der Fahrbahn verteilt. Der Fahrer muss durch die geborstene Windschutzscheibe aus der Kabine gerettet und notärztlich versorgt werden. Offenbar ein spannendes Motiv für Hobby-Filmer und -Fotografen: Etwa 80 Gaffer haben ihre Autos verlassen und sind zur Unfallstelle geeilt, um den Crash für soziale Netzwerke oder das Privatarchiv festzuhalten. In zwei Reihen stehen sie an der abgesperrten Unfallstelle und filmen.
Bild der Verwüstung: Auf der A6 sind zwei Lkw kollidiert. Gerhard Grad ist vor Ort.
Der Getränke-Lkw steht quer. Die Autobahn muss sieben Stunden vollgesperrt werden.
Bergung durch die zerstörte Windschutzscheibe: Der Lkw-Fahrer überlebt mit Glück.
Hunderte Flaschen sind ausgelaufen. Die Reinigung der Fahrbahn dauert Stunden.
„Volksfestartige Stimmung herrschte da“, sagt Grad heute. „Ich musste mehrere Polizisten abstellen, um die Leute zurückzudrängen.“ Nur die wenigsten gehen zu ihren Autos zurück. Die anderen erklommen einen Lärmschutzwall. „Da war wohl die Perspektive günstiger“, sagt Grad verbittert. Der Lkw-Fahrer hatte Glück und überlebte. Fassungslos über die Geschehnisse ist auch Michael Petzold, Sprecher des Polizeipräsidiums Mittelfranken, der bei der Unfallserie auf der A6 die Öffentlichkeitsarbeit leitete: „Es gibt eine deutliche Zunahme von Gaffern an Unfallstellen. Das ist wohl den sozialen Netzwerken geschuldet. Viele besitzen dann auch noch die Dreistigkeit, das online zu stellen.“
„Es tritt langsam ein Gewöhnungseffekt ein. Dieses Verhalten ist Standard geworden“, sagt Gerhard Grad. Es sei sogar bereits vorgekommen, dass Angehörige schon aus sozialen Netzwerken vom Unfall erfahren haben, bevor die Polizei sie persönlich informieren konnte. Theo Herrmann kann außerdem von einer weiteren Erfahrung berichten: Als er einen unbeteiligten Fahrer darauf hingewiesen hat, auch selbst in eine gefährliche Situation geraten zu können, habe dieser lapidar geantwortet: „Dann habe ich eben Pech gehabt.“
Erschwerend kommt hinzu: Rettungskräfte und Polizisten werden immer wieder beschimpft und müssen bei Unfällen aufwendige Absperrmaßnahmen durchführen. Das alles hält sie jedoch von ihrer eigentlichen Aufgabe ab, Verletzte zu versorgen und den Unfallort zu räumen. Aber vor allem: Leben zu retten.
Bußgelder beim Behindern von Rettungshilfen
Das Behindern von Hilfskräften ist kein Kavaliersdelikt. Entsprechend drohen Autofahrern seit dem 28. April 2020 noch höhere Strafen, als bisher:
● 200 Euro, zwei Punkte im Fahreignungsregister und ein Monat Fahrverbot für das Nichtbilden einer Rettungsgasse.
● 240 Euro, zwei Punkte und einen Monat Fahrverbot für nicht gebildete Rettungsgassen mit Behinderung, z.B. von Einsatzkräften.
● 280 Euro, zwei Punkte und einen Monat Fahrverbot für nicht gebildete Rettungsgassen mit Gefährdung.
● 320 Euro, zwei Punkte und einen Monat Fahrverbot für nicht gebildete Rettungsgassen mit Sachbeschädigung.
Auch die unerlaubte Nutzung einer Rettungsgasse wird streng geahndet:
● 240 Euro, zwei Punkte und ein Monat Fahrverbot für die unerlaubte Nutzung einer Rettungsgasse.
● 280 Euro, zwei Punkte und ein Monat Fahrverbot für die unerlaubte Nutzung einer Rettungsgasse mit Behinderung.
● 300 Euro, zwei Punkte und einen Monat Fahrverbot für die unerlaubte Nutzung einer Rettungsgasse mit Gefährdung.
● 320 Euro, zwei Punkte und einen Monat Fahrverbot für die unerlaubte Nutzung einer Rettungsgasse mit Sachbeschädigung.
Aktualisierte Fassung, ursprüngliche Veröffentlichung am 05.10.2017
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