Die Geste zählt

Wie lernen gehörlose Menschen Autofahren? „Runter vom Gas“ stellt eine Fahrschule vor, in der man sich ohne Worte verständigt.

 

14.02.2020

Der schwarze Pkw fährt gerade eine ruhige Seitenstraße entlang, als Fahrlehrer Georg Graßhoff auf dem Beifahrersitz nach vorne rückt und mit seinen Händen Lenkbewegungen nachahmt: Mehrmals hintereinander zieht er die ausgestreckte, linke Hand hinter seine rechte Faust – Maurice-Valentin Poth, 19 Jahre, nickt, bleibt stehen und setzt den Blinker. Fokussiert beobachtet er die Handzeichen seines Fahrlehrers. Dann schaltet er in den Rückwärtsgang und prüft per Schulterblick, ob der Weg hinter ihm frei ist. Geschickt lenkt er den Wagen zurück, schlägt im richtigen Winkel ein; das Auto steht nun parallel zur Bordsteinkante. Graßhoff ist zufrieden: Rückwärts einparken beherrscht Maurice-Valentin schon gut. Doch anstatt seinen Fahrschüler zu loben, lächelt er ihn nur freundlich an. Denn Worte hätte Maurice-Valentin ohnehin nicht verstanden: er ist seit seiner Geburt gehörlos. Bei Georg Graßhoff kann er dennoch seinen Führerschein machen.

Seit 1989 leitet Graßhoff, vorgeschobene Lesebrille, ruhiges Wesen, im Berliner Stadtteil Friedenau eine sogenannte „integrative“ Fahrschule. Das bedeutet: Hier können auch Menschen mit körperlicher Behinderung oder Gehörschädigung den Führerschein machen. Bundesweit gibt es etwa 120 solcher Fahrschulen, speziell für Schüler mit auditivem Handicap sind es 24 Fahrschulen in ganz Deutschland. Entsprechend begehrt sind die Plätze.
Oft nehmen Schüler einen langen Weg in Kauf, um die Fahrerlaubnis zu erlangen: „Ich war vorher bei zwei oder drei anderen Fahrschulen. Die haben mich aber abgelehnt“, meint Maurice-Valentin stellvertretend für zahlreiche andere Fahrschüler. Durch sein Umfeld ist er schließlich auf die Fahrschule von Graßhoff aufmerksam geworden. Im Theorieunterricht sitzt sogar ein junger Mann aus Kiel.

Dass gehörlose Menschen einen Führerschein machen können, war lange keine Selbstverständlichkeit. Noch in den 1940er Jahren glaubte man, dass Gehörlose eine Gefahr für den Straßenverkehr darstellten. Erst der Protest zahlreicher Gehörlosenverbände hat an dieser Situation etwas verändert. Denn inzwischen weiß man: Auch gehörlos ist das Autofahren sicher möglich.
Laut dem Weltverband der Gehörlosen (WFD) sind Hörbehinderte nicht öfter in Unfälle verwickelt als Fahrer, die hören können.

Um für die Führerscheinprüfung zugelassen zu werden, brauchen sie dennoch in der Regel vorher ein Gutachten durch einen Facharzt. Dieses Gutachten schreibt im Zweifel das Benutzen des Hörgerätes während der Autofahrt vor.
Generell gilt für Gehörlose und Schwerhörige mit einem Hörverlust von mindestens 60 Prozent, dass sie nicht gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel wie z.B. Sehstörungen oder Gleichgewichtsstörungen haben dürfen. So steht es in der Anlage 4 der Fahrerlaubnis-Verordnung. Sind diese Mängel nicht gegeben, können Menschen mit auditiven Einschränkungen auch bei vollständiger Gehörlosigkeit regulär den Führerschein erwerben.

Ein Fahrlehrer mit Blick für die Gesellschaft

Graßhoff arbeitet bereits seit mehr als 35 Jahren mit körperlich beeinträchtigten Menschen zusammen. Eine Ausschreibung durch das Deutsche Rote Kreuz weckte damals seine Aufmerksamkeit. „Die Spezialversehrtenfahrschule Deutschlands hatte einen Fahrlehrer gesucht. Das fand ich spannend.“ Viele Verkehrsteilnehmer würden sich keine Gedanken darüber machen, dass es sich bei ihrem Gegenüber im anderen Auto vielleicht um einen Gehörlosen handeln könne, sagt er. Auch dafür möchte er sensibilisieren. Schließlich lernte er die lautsprachbegleitende Gebärdensprache (LBG) und die Gebärdensprache, um sich mit gehörlosen Fahrschülern verständigen zu kommen. Es macht ihm Spaß Menschen, die in der Gesellschaft oft Barrieren erfahren, zu fördern: „Es ist ein schönes Gefühl, wenn man diese Menschen dazu bringt, dass sie Auto fahren können und vielleicht sogar besser als Menschen ohne Handicap. Das treibt mich an.“

Gehörlose verlassen sich auf andere Sinne

Denn Gehörlose sind oft von Geburt an daran gewöhnt, sich ohne Geräuschkulisse zu orientieren. Stattdessen verlassen sie sich auf ihre anderen Sinne, die laut dem Deutschen Gehörlosen-Bund „besonders gut ‚funktionieren‘“. So ist es beispielsweise inzwischen erwiesen, dass Menschen mit Hörverlust schneller auf Objekte reagieren können. Dementsprechend kommt es für Maurice-Valentin während der Fahrt vor allem aufs Sehen und Fühlen an. Generell wirkt er während der Fahrt sehr wach und fokussiert: Den Oberkörper hat er durchgestreckt; die lockigen Haare sind aus dem Gesicht gebunden. Mit seinen Augen studiert er neben dem allgemeinen Verkehrsgeschehen auch akribisch das Verhalten der anderen Autofahrer.
Laute Signale wie Martinshörner erkennt Maurice-Valentin am nervösen Gesichtsausdruck der anderen Verkehrsteilnehmer und, dass sich ein Rettungswagen im Einsatz befindet, sieht er natürlich auch am Blaulicht. Auch der Drehzahlmesser ist für gehörlose Menschen ein wichtiger Fixpunkt im Auto. Denn ohne das Motorengeräusch ist der richtige Moment zum Schalten schwerer zu finden. Aber auch hier hilft gehörlosen Personen ihr ausgeprägter Tastsinn: Das Schalten, aber auch das Anfahren am Berg klappe bei ihnen häufig schneller und besser als bei Hörenden, erzählt Graßhoff. Durch die lange Übung hat Maurice-Valentin sich zudem ein großes peripheres Sichtfeld angeeignet; er nimmt seine Umgebung also sehr intensiv wahr. An dieser hohen Konzentration hinterm Steuer könnten sich hörende Fahrschüler durchaus ein Beispiel nehmen, findet sein Fahrlehrer.

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Fahrlehrer Graßhoff schaut in die Kamera
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Fahrschüler Maurice-Valentin konzentriert sich auf den Verkehr und stimmt sich mittels einer Gebärde mit dem Fahrlehrer ab.
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Die Augen von Maurice-Valentin spiegeln sich im Rückspiegel
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Fahrlehrer Graßhoff zeigt eine Gebärde
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Fahrlehrer und Fahrschüler rekapitulieren die gerade abgeschlossene Fahrstunde mithilfe von Gebärden
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Alles gesagt ohne ein einziges Wort

Auch die Kommunikation zwischen den beiden klappt gut – selbst wenn man auf der Rückbank, außer dem gelegentlichen Rascheln der gestikulierenden Hände, kaum etwas davon mitbekommt. Kommandos oder Tipps gibt Graßhoff ausschließlich in Form von Gebärden. Wichtig ist es dabei, dass er die Signale in der Nähe des Armaturenbretts gibt, damit Maurice-Valentin die Hände stets aus dem Augenwinkel im Blick hat und sofort reagieren kann. Falls die Zeichen einmal nicht erkannt werden, tippt der Fahrlehrer seinem Schüler auf die Schulter - eine übliche Geste zwischen gehörlosen Menschen, um auf sich aufmerksam zu machen. „Notfalls greife ich ein, und drücke auf die Bremse. Erklärt wird dann im Nachhinein. Genau wie bei hörenden Menschen auch.“

Herausforderung Theorieprüfung

Schwieriger als der praktische Unterricht ist die Theorieprüfung. Denn die Muttersprache für Gehörlose ist die deutsche Gebärdensprache, die sich hinsichtlich Grammatik und Wortwahl erheblich von der deutschen Schriftsprache unterscheidet. So befinden sich Verben beispielsweise grundsätzlich am Satzende, Zeitangaben stehen am Satzbeginn. Doppelte Verneinungen oder verschachtelte Sätze kommen in der Gebärdensprache überhaupt nicht vor. „Typische Antwortmöglichkeiten in der theoretischen Prüfung wie: ‚Das rote Auto fährt vor dem grünen, aber nach dem blauen Lkw’ sind in der Gebärdensprache schwer zu formulieren“, erklärt Graßhoff. Schüler mit auditiven Einschränkungen brauchen für die Theorie-Einheiten deswegen mehr Zeit; Graßhoff hat den Stoff entsprechend angepasst. Einen eigenen Theoriebogen in Gebärdensprache aber gibt es bislang noch nicht. Deswegen legen die meisten Gehörlosen die Theorieprüfung mithilfe eines Dolmetschers ab.

So kommunizieren Menschen mit Hörverlust

Die reine Gebärdensprache wird zum Großteil von vollständig Gehörlosen genutzt. Diese kommt komplett ohne Laute aus. Für die Gebärden kommen nicht nur die Hände zum Einsatz; auch die Körpersprache, Mimik sowie Bewegungen mit dem Mund unterstützen die Kommunikation. Die Gebärdensprache hat eine eigene Grammatik. Verben stehen zum Beispiel stets am Satzende; Zeitangaben am Satzbeginn. Generell sind die Sätze kürzer und verzichten auf Füllwörter.

Bei Schwerhörigen ist die lautsprachbegleitende Gebärdensprache (LBG) verbreiteter. Hierbei unterhalten sich die Personen und nutzen die Gebärden unterstützend. Die Grammatik ist identisch zu der aus der deutschen Schrift- bzw. Lautsprache.

Zusätzlich gibt es die lautsprachunterstützenden Gebärden (LUG). Dabei werden parallel zur gesprochenen Sprache die jeweiligen Schlüsselwörter mit Gebärden begleitet.
 

Auch Maurice-Valentin hat vor der theoretischen Prüfung am meisten Respekt. Zwar ist er auch vor den praktischen Fahrstunden nervös; aber Angst im Straßenverkehr hat er nicht, erzählt er nachdem er wieder ausgeparkt hat und sich nun durch den winterlichen Feierabendverkehr auf einer viel befahrenen Straße entlang schlängelt. An einer Ampel sieht man aus den Auspuffen Wasserdampf als weißen Rauch emporsteigen. Kalte Temperaturen sind für Maurice-Valentin eine große Motivation: Er möchte unbedingt möglichst bald mit dem eigenen Auto in den Skiurlaub fahren.

Bilder: Holger Talinski