„Hey, du schaffst das – der Krankenwagen kommt gleich“
Wie ein Ersthelfer um das Leben eines Motorradfahrers kämpfte.
23.05.2019
Die Luft ist lau draußen, kurz vor Mitternacht an diesem Julitag. Es ist Ferienzeit, auch für Marius Nolte und seine hochschwangere Frau. In einem Monat soll ihr zweites Kind zur Welt kommen, ein Sohn. Marius Nolte ahnt noch nicht, dass er in wenigen Minuten um das Leben des Sohnes einer anderen Familie kämpfen wird.
Mit „Runter vom Gas“ hat Marius über das Ereignis gesprochen. Ein Protokoll – aus der Sicht des jungen Mannes:
Bei einem Unfall in der Nacht zu Mittwoch hat ein 19 Jahre alter Motorradfahrer lebensgefährliche Verletzungen erlitten.
Das war die Info, die ich am nächsten Tag im Internet gelesen habe. Bis dahin dachte ich, man muss sich keine Sorgen um ihn machen. Mir war überhaupt nicht bewusst, wie schwer er verletzt war. Und dann steht da plötzlich: Er kämpft ums Überleben. Da war ich fertig.
Ich fing an, mich zu hinterfragen: Hatte ich alles richtig gemacht? Ich wusste, dass ich die Grundlagen der Ersten Hilfe drauf hatte und dass ich irgendwie helfen konnte. Aber auf einmal war ich nicht mehr so sicher.
Die Stimmung war gut
Meine Frau und ich waren an dem Abend bei einem alten Kumpel, der Geburtstag gefeiert hat. Keine große Party, mehr ein geselliges Zusammensein; alle mussten tags darauf arbeiten. Meine hochschwangere Frau und ich hatten einen richtig schönen Abend. Zum allerersten Mal haben wir auch den Namen verraten, den wir später unserem Sohn gegeben haben. Es war überhaupt ein wunderbarer, lauer Sommertag – auch am Abend, als wir gegen viertel vor zwölf losgefahren sind.
Marius Nolte hat im Juli 2018 bei einem lebensgefährlich verletzten Motorradfahrer Erste Hilfe geleistet.
Der 38-Jährige lebt mit seiner vierköpfigen Familie in Frankfurt am Main und besuchte Freunde in seiner ostwestfälischen Heimat, als der Unfall geschah.
„Nicht helfen ist keine Option“, sagt der ehemalige Profi-Basketballer, der für Paderborn und Frankfurt viele Jahre in der Bundesliga spielte.
„Mir war wichtig zu vermitteln: Hier ist jetzt einer, der die Kontrolle hat“, sagt Nolte über den Moment, als er zum Ersthelfer wurde. Die Mutter des Ersthelfers dankt es ihm heute.
Seit seiner Führerscheinprüfung hatte Nolte keinen Erste-Hilfe-Kurs mehr absolviert. Zwar ging alles gut, doch im Nachhinein hätte er sich sicherer gefühlt, wenn er sein Wissen nochmals aufgefrischt hätte.
Mitten auf dem Stadtring stand ein Auto, über beide Spuren, die zwei Türen offen, kein Warndreieck, Warnblinker eingeschaltet. Es war offensichtlich: Da stimmt etwas nicht.
Wir fuhren vorsichtig vorbei. Zwei Jungs standen am Auto, jemand lag auf der Straße. Ich kann das nicht beschreiben, nur, dass es nicht gut aussah. Hinter dem Körper lag ein Motorrad, das Licht noch an. Was ich nicht so schnell vergessen werde: Zwischen ihm und dem Motorrad lag ein Schuh. Da habe ich gedacht: Welche Kräfte müssen gewirkt haben, dass es dir den Schuh auszieht?
Wir haben sofort angehalten, ich bin ausgestiegen – ohne groß darüber nachzudenken. Dabei kam sofort Adrenalin. Als ich fragen wollte, ob ich etwas tun kann, riefen die beiden Jungs: „Können Sie uns helfen?“
Die Zwei waren die Insassen des Autos und hatten den Unfall direkt miterlebt. Sie waren mit dem Motorradfahrer sogar befreundet. Deswegen standen sie völlig unter Schock. Den Notarzt hatten sie bereits gerufen.
Wie der Unfall geschah
Der Motorradfahrer und zwei Freunde sind an diesem Dienstagabend in einer Großstadt in Nordrhein-Westfalen gemeinsam unterwegs. Auf dem Weg nach Hause fahren die Freunde in einem Auto voraus. Als der Motorradfahrer sie überholen will, verliert er beim Einscheren die Kontrolle über sein Bike. Der 19-Jährige kommt von der Straße ab, touchiert den Begrenzungsstreifen und kollidiert mit einem Laternenmast. Dabei wird er auf die Straße geschleudert und bleibt schwer verletzt liegen.
Ich habe mich zum Motorradfahrer gebeugt und gehört, wie er stöhnte. Es war offensichtlich, dass er starke Schmerzen hatte. Das hieß für mich aber auch: Puls und Atem sind da. Das hat mich beruhigt, ich dachte: Wenn er stöhnen kann, dann wird das schon wieder. Aber ich hatte gar nicht im Kopf, dass er so schwere innere Verletzungen haben könnte und überhaupt: dass es um Leben und Tod gehen würde.
In dem Moment war das vielleicht ganz gut. Er war bei Bewusstsein und der Notarzt war unterwegs. Deswegen wollte ich ihn vor allem wach halten. Hauptsache da sein. Und viel reden.
Ich habe mich allerdings nicht getraut, den Helm abzunehmen. Wenn er nicht mehr geatmet hätte, hätte ich ihm den Helm vielleicht abgenommen. Später habe ich das nochmal nachgelesen: Tatsächlich sollte man Helme bei bewusstlosen Personen abnehmen, weil das Risiko zu ersticken hoch ist – das gilt sogar für diese Helme, die man vorn hochklappen kann.
Ich habe ihn an der Schulter berührt, damit er mich spüren kann. Dabei habe ich die ganze Zeit zu ihm gesprochen. „Hey, ich bin Marius, ich helfe dir jetzt, wir schaffen das.“ Das war die Grundaussage: Hey, du schaffst das schon. Und: Polizei und Krankenwagen kommen gleich.
Das war dann einfach meine Devise: Keine Angst vor Fehlern, Hauptsache helfen.
Seit meiner Führerscheinprüfung hatte ich keinen Erste-Hilfe-Kurs mehr gemacht. Es ging zwar alles gut. Doch im Nachhinein hätte ich lieber noch einen Kurs gemacht, um in dieser Situation sicherer zu sein.
So geht die stabile Seitenlage
Die stabile Seitenlage wird bei bewusstlosen Menschen angewandt. Damit wird verhindert, dass sie an Blut und Erbrochenem ersticken. Auf diese Weise bleiben die Atemwege frei. Die verletzte Person sollte zunächst auf dem Rücken liegen. Den nahen Arm mit der Innenfläche nach oben anwinkeln und den anderen Arm über die Brust kreuzen und dabei die Handoberfläche an die Wange legen. Den fernen Oberschenkel hochziehen und dabei das Knie beugen. Dieses Bein herüberziehen, sodass der Oberschenkel im rechten Winkel zur Hüfte steht. Den Mund leicht öffnen und zum Boden ausrichten. Die Hand an der Wange so ausrichten, dass der Kopf überstreckt bleibt.
Wichtig: Immer beim Verletzten bleiben und die Atmung kontrollieren.
Ein beliebter Irrtum ist es, Unfallopfer immer in die stabile Seitenlage bringen zu wollen. Diese ist nur angebracht, wenn der Verletzte bewusstlos ist, aber normal atmet.
Ringt der Verunglückte nach Luft oder hört er gar auf zu atmen, sollte ein Ersthelfer das Opfer auf den Rücken legen, um die Wiederbelebung zu beginnen. Dabei ist das Wichtigste die Herz-Druck-Massage. Sie hält die Blutzirkulation aufrecht.
Pro Minute sollten Helfer 100 bis 120 Mal drücken. Die Frequenz entspricht ungefähr dem Takt von Pop-Hits wie „La Macarena“ oder „Stayin’ Alive“. Herzdruckmassage und Beatmung dabei permanent abwechseln (30-mal drücken, zweimal beatmen). Beatmung allein reicht nicht aus.
Sein Arm fühlte sich merkwürdig an und ließ sich in alle Richtungen bewegen. Der war eindeutig gebrochen.
Mir war wichtig, dass der Motorradfahrer mitbekommt, was ich mit ihm mache. Den Jungs konnte ich so vielleicht auch etwas helfen – einfach, indem ich ihnen vermittelte: Hier ist einer, der die Kontrolle hat.
Ich wollte auch wissen, wie er heißt, wo er Schmerzen hat. Einfache Fragen, damit er wach bleibt.
Irgendwann kommst du dir natürlich komisch vor, wenn du im Prinzip nur mit dir selbst sprichst und alles wiederholst. Da wurde ich nervös und dachte: Jetzt kann langsam was passieren. Ich wusste nicht, was ich sonst noch tun konnte.
Zwischendurch kamen zwei Leute, die fragten, ob sie helfen könnten. Nein, warten. Um mehr ging es nicht. Das Ganze dauerte wohl fünf bis zehn Minuten. Aber es kam mir in dem Moment elendig lang vor.
Endlich Blaulicht
Ich war froh, als ich das Blaulicht sah. Da wusste ich: Jetzt passiert etwas. Dem Motorradfahrer wird professionell geholfen. Aber das war erstmal nur die Polizei. Ob alles okay sei, wollte ein Beamter wissen. Ich erzählte ihm, was ich gemacht hatte und dass ich mit dem Verunglückten spreche.
Das war für den Polizisten okay. Er sagte, der Krankenwagen sei gleich da. Dann ist er zu den Jungs und hat sie mit seinem Kollegen befragt. Also konnte ich dem Motorradfahrer sagen: „Hörst Du, die Polizei ist da und der Krankenwagen kommt auch gleich.“
Als der Notarzt kam, ging es schnell. Da habe ich nur gesagt: „Hey, schau mal, super, die kommen jetzt, die wissen genau, was sie machen müssen.“ Und plötzlich hatte ich gar nichts mehr mit all dem zu tun. Ein Polizist nahm unsere Daten als Zeugen auf und bot uns Hilfe an, auch um nach Hause zu kommen. Aber wir sind dann selbst gefahren.
Im Auto wurde mir richtig schlecht. Ich fing an zu zittern. So ein Ereignis dauert, bis es sich setzt – vor allem nach so einem Adrenalin-Schub. Bis dahin hatte ich ja nur den Ernst der Lage registriert und funktioniert.
Als ich am nächsten Tag die Pressemitteilung der Polizei sah, wurde mir erst richtig bewusst, wie schwer der Motorradfahrer verletzt war. Gleichzeitig fragte ich mich: Wie geht’s jetzt für ihn weiter? Darf mich das überhaupt interessieren? Er war mir vorher irgendwie nah. Gleichzeitig kam ich mir komisch vor, bei der Polizei nachzufragen. Du machst bei der Ersten Hilfe, was du kannst. Und an dem, was danach kommt, kannst du nichts ändern.
Deswegen freue ich mich auch immer noch über den Brief seiner Mutter, die sich bei mir für alles bedankt hat; dass ich ihrem Sohn das Leben gerettet habe. Der Brief kam zwei, drei Tage, nachdem unser Sohn geboren wurde. Da war der Unfall schon mehr als einen Monat her, die Erlebnisse waren weit weg. Bei uns war viel los in den letzten Tagen der Schwangerschaft und mit der Entbindung.
Der Brief hat mich sehr berührt. Man merkt bei den Worten seiner Mutter: Die kommen aus tiefstem Herzen. Da ging bei mir alles drunter und drüber und es kamen viele Emotionen. Klar, dass du dir in so einer Situation Gedanken machst: Da kommt ein neues Leben auf die Welt. Und ein anderes Leben hat die ganze Zeit darum gekämpft, bleiben zu dürfen.
Erste Hilfe: Eine Broschüre zeigt, wie es geht.
Bei der Ersten Hilfe gilt immer: Der einzige Fehler ist, nichts zu tun. Jede Unterstützung ist richtig. Wer Hilfe hingegen unterlässt, kann sich strafbar machen. Helfen heißt vor allem, schnellstmöglich die europaweite Notrufnummer 112 anzurufen.
Grundsätzlich ist wichtig, nach der Faustregel „schützen, melden, helfen“ zu handeln. Und am besten frischen Sie das Erste-Hilfe-Wissen alle zwei Jahre auf. Bei den Rettungs- und Hilfsorganisationen gibt es genau dafür Auffrischungskurse.
Mehr Informationen bietet die Broschüre „Verhalten am Unfallort“.
Bilder: Lucas Wahl