Kopflose Radfahrer: Was eine Unfallärztin über Fahrradhelme denkt

Wer ohne Helm aufs Fahrrad steigt, geht ein großes Risiko ein. Eine Ärztin weißt das allzu gut: Sie sieht fast täglich Kopfverletzungen von Radfahrern.

 

06.09.2019

Die Frau auf der Trage blutet stark am Kopf. Sie stöhnt vor Schmerzen. Um sie herum stehen viele Menschen und schauen auf sie herab. Sie fassen sie an, tasten sie vorsichtig ab. Sie versteht nicht, was das soll. Sie versteht nicht, wo sie ist. Sie will weg. Nach Hause. Sie kann sich nicht erinnern.

Nicht an das Auto, das plötzlich da war. Nicht an den Sturz. Und nicht daran, wie sie nach einem Zusammenprall mit einem Auto mit dem Kopf auf den Asphalt prallte. Ein Helm hätte zumindest die Kopfverletzungen verhindert.  

Jetzt liegt sie hier, Irmgard P. (Name geändert), im Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin, wie es mit vollem Namen heißt. Kurz: ukb. Es ist Europas modernster Emergency Room. Er verfügt über 40 Behandlungsplätze und einen Schockraum, in dem gleichzeitig vier Patienten versorgt werden können.

 

Täglich werden Fälle wie Irmgard P. ins ukb eingeliefert: Radfahrer, die ohne Helm einen Verkehrsunfall hatten. Wer hier in Berlin-Marzahn als einer von 62.000 Patienten pro Jahr landet, kommt meistens durch die Tür mit der Aufschrift „Notaufnahme“. Und wer hier arbeitet, darf nicht zart besaitet sein.

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Ein Notarzt und andere Ärzte in weißen Kitteln stehen um einen Mann auf einer Trage herum.
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Ein Notarzt hat einen Patienten in die Notaufnahme gebracht und informiert die Ärzte über die Symptome.

Eine Ärztin und eine Pflegerin stehen am Bett einer Patientin.
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Einsatzleiterin Anika Wichmann informiert sich bei einer Pflegerin über den Zustand einer Patientin.

Im Vordergrund stehen eine Pflegerin und eine Ärztin am Bett eines Patienten, die Vorhänge von den anderen Behandlungsplätzen sind zugezogen.
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Das Unfallkrankenhaus verfügt über einen der modernsten Schockräume Europas. Vier Patienten können parallel notversorgt werden.

Eine Ärztin spricht mit Kollegen über Röntgenbilder.
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Anika Wichmann bei einer Besprechung mit Kollegen.

Außenansicht des Unfallkrankenhauses Berlin mit Helikopter auf dem Dach.
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Der Eingangsbereich zur Notaufnahme. Auch Irmgard P. wurde hier eingeliefert.

Was in der Rettungsstelle – manchmal im Viertelstundentakt – auf den Tisch kommt, ist häufig schwer zu verdauen. Knochenbrüche, schwerste Verbrennungen, Schädel-Hirn-Traumata, Schlaganfälle, offene Wunden und Ähnliches sind hier an der Tagesordnung. Immer wieder unter den Verunglückten: Radfahrer. Meistens die ohne Helm. Genau wie Irmgard P., um die sich jetzt Unfallchirurgin Anika Wichmann kümmert, die heute als Einsatzleiterin Dienst tut.

„Ich verstehe nicht“, sagt sie, „warum Menschen die Gefahren so ausblenden. Bei jedem zweiten getöteten Radfahrer sind Kopfverletzungen die Ursache. Mit einem Helm kann ich das Risiko extrem minimieren. Und es muss ja nicht immer der Tod sein. Es reicht ja schon, wenn man lebenslange Schäden davon trägt“, sagt sie.
 

Schon am frühen Morgen wird durch den Wetterbericht deutlich: Heute ist ein Tag, an dem viel passieren könnte. Rekordtemperaturen sind angekündigt. Das verspricht ein Tag der Kreislaufprobleme zu werden. Und ein Tag der Fahrradunfälle. Denn je schöner das Wetter, desto mehr Radler sind auf den Straßen unterwegs. Und je heißer es wird, desto schneller lässt die Konzentration nach. Auch wenn die meisten Unfälle scheinbar unspektakulär wirken: Selbst harmlose Zusammenstöße können für Radfahrer gravierende Folgen haben.

Irmgard P. ist schwer verletzt. Sie durchläuft im Krankenhaus die üblichen Stationen für Unfallopfer. Nach einer Untersuchung im Computertomografen und beim Röntgen steht fest: kein Blutgerinnsel. Aber eine schwere Gehirnerschütterung, ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Mittelgesichtsfraktur, die aber nicht operiert werden muss.  

„Mit Helm wäre ihr das ziemlich sicher erspart geblieben“, sagt Karsten Lesemann. Er ist der Notarzt, der Irmgard P. als Erster versorgt hat. Er muss es wissen, denn immer wieder liefert er Radfahrer ins Unfallkrankenhaus. „Schwache Verkehrsteilnehmer sind fast völlig schutzlos. Kein Airbag und keine Knautschzone geben ihnen Spielraum. Da muss ich doch wenigstens den Helm aufsetzen. Das würde so viele schwere Verletzungen verhindern“, sagt er. 

Vergesslichkeit, Eitelkeit und Sorglosigkeit: Es gibt viele Ursachen, warum Radfahrer auf den Kopfschutz verzichten. „Bei Kindern denken die Eltern häufig nicht daran. Und Teenager finden, dass sie mit Helm furchtbar aussehen, oder dass es die Frisur kaputt macht. Ältere Menschen denken oft, früher gab es gar keine Helme und mir ist auch nichts passiert“, sagt Wichmann. Diese Ausreden könne man jedoch nicht gelten lassen. Dazu sieht Wichmann zu viele verletzte Radfahrer und -fahrerinnen.

Radfahrer haben die Risiken selten im Blick. Das zieht sich durch alle Altersgruppen. Nach Angaben der Bundesanstalt für Straßenwesen tragen lediglich 17 Prozent den Kopfschutz. Ganz besonders fahrlässig handelt die Gruppe der 17 bis 30-Jährigen. Nur acht Prozent von ihnen schützen sich mit einem Helm – die niedrigste Quote über alle Altersklassen hinweg. Kein Wunder, dass Fahrradfahrer Stammgäste in der Notaufnahme sind. „Zehn bis 15 Prozent aller Traumapatienten“, so schätzt Wichmann, „sind Radler.“

Die Zahl der getöteten Radfahrer steigt

Die Zahl der Verkehrstoten nimmt seit Jahrzehnten bis auf wenige Ausnahmen ab. Bedenklich ist jedoch ein gegenläufiger Trend: Es sterben immer mehr Radfahrer auf deutschen Straßen. Seit 2010 ist die Zahl der getöteten Menschen, die mit dem Rad unterwegs waren, um fast 17 Prozent gestiegen, auf 445 in 2018. Eine Ursache: Die Weigerung, einen Helm zu tragen. „Oben ohne“ zu fahren ist Todesursache Nummer eins für Radfahrer. 75 Prozent der Fahrradunfälle ereignen sich, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, in der Stadt.

Für die jüngere Zielgruppe bieten sie im ukb spezielle Kurse an, in denen Jugendliche mit den möglichen Folgen ihres Handelns konfrontiert werden. Alkohol am Steuer, Drogen aber auch Fahrradfahren ohne Helm. P.A.R.T.Y. heißt eines dieser Programme. Es kommt aus Kanada und soll Schülern im Alter zwischen 15 und 18 Jahren die Folgen verantwortungslosenleichtsinnigen Handelns vor Augen führen.

„Wenn sie Jugendlichen einen jungen Koma-Patienten zeigen, der einen Fahrradunfall ohne Helm hatte, dann zeigt das starke Wirkung“, sagt Wichmann. Die Aktion „Looks like shit. But saves my life.“ #helmerettenleben des Bundesverkehrsministeriums und des Deutschen Verkehrssicherheitsrates findet sie gut: Angesichts bleibender Schäden oder tödlicher Verletzungen seien ein hässlicher Fahrradhelm oder eine zerrupfte Frisur durch den Fahrradhelm leicht zu verkraftende Opfer oder ein kleines Übel. Sie selbst kommt vom Land, sie fuhr schon als Kind stets mit Helm.

Unterdessen versucht Irmgard P. immer wieder, sich von den Drähten und Schläuchen zu befreien, an die sie angeschlossen ist. Sie wolle hier raus, sagt sie. Mehrfach. Vielleicht war sie schon vorher etwas verwirrt. Wissen tut das niemand hier. Noch sind keine Verwandten ausfindig gemacht worden. 

Vor allem bei Erwachsenen hat Anika Wichmann keinerlei Verständnis für Nachlässigkeiten. „Wenn ich manchmal Eltern sehe, die aufs Fahrrad steigen, das Kind im Kindersitz anschnallen, ihm den Helm aufsetzen und sich dann selbst oben ohne aufs Rad schwingen, dann fasse ich es nicht. Als ob nur Kindern etwas passieren könnte. Und sie denken auch nicht an die Folgen, wenn ihr Nachwuchs ohne Mutter oder Vater aufwachsen muss.“ Es sei auch nicht schön, Mädchen und Jungen mitzuteilen, dass ein Elternteil nicht mehr da ist, fügt sie hinzu.

Sie selbst hat keine Kinder. Trotzdem ist Wichmann diejenige, die meist geschickt wird, wenn es darum geht, eine schlimme Botschaft zu verkünden. Den Angehörigen von Unfallopfern etwa zu erklären, dass der Sohn oder die Tochter tot ist oder schwere, bleibende Schäden davontragen wird. Irmgard P. konnte eine Woche später wieder entlassen werden. Anika Wichmann musste ihr Einfühlungsvermögen diesmal nicht unter Beweis stellen.

„Das ist jedes Mal furchtbar. Jedes Mal von neuem. Man lernt das an der Uni in speziellen Seminaren. Aber die Theorie kann mit der Praxis nicht mithalten. Letztlich helfen nur Empathie und Ehrlichkeit“, sagt sie. Man müsse aufpassen, dass man das nicht mit nach Hause nehme. Meist ist gar keine Zeit, das sacken zu lassen. Der Alltag reißt sie immer wieder mit sich. Denn das nächste Unglück kommt bestimmt. 

Bilder: Unfallkrankenhaus Berlin