„Phasenweise glücklich!“

Die dreifache Paralympics-Siegerin Kirsten Bruhn über ihr Leben vor und nach dem Motorradunfall.

 

31.08.2017

Viele paralympische Karrieren beginnen mit einer persönlichen Katastrophe. Kirsten Bruhn, sechsmalige Schwimmweltmeisterin und dreifache Paralympics-Siegerin, durchlebte diese Tragödie in einer Linkskurve auf der griechischen Urlaubsinsel Kos, als sie vom Motorrad ihres Freundes in einen Straßengraben geschleudert wurde. Jener Tag im Juli vor 26 Jahren legte sich wie eine Schwarzblende über ihr Leben und teilte es in zwei Hälften: In ein Davor und ein Danach.

Kirsten Bruhn zieht ruhig ihre Bahnen im Becken des Olympiastützpunktes in Berlin-Hohenschönhausen. Ihre Schwimmkarriere hat die 47-Jährige längst beendet. Aber sie achtet immer noch auf ihren Körper. Als sie aus dem Wasser gleitet fallen sofort ihre muskulösen Arme auf, aber auch ihre strahlenden blauen Augen und das ansteckende Lachen. Da ist eine mit sich im Reinen. Scheinbar.

Im Wasser fühlt Kirsten Bruhn sich zu Hause.

Aber nur wenige Minuten später sagt sie: „Ich hätte mir diese Erfahrung gerne erspart. Ich arrangiere mich mit der Situation. Aber ich werde sie nie im Leben akzeptieren, weil das Leben ohne Behinderung einfach unbeschwerter war.“ Die Erfahrung, das ist der Verkehrsunfall und seine Folgen. Sie kann die Tränen nicht zurückhalten, während sie das sagt.

Mehr als zwölf Stunden bis zur ersten Untersuchung

Das Danach beginnt an jenem Straßenrand, in dem sie nach ein paar Sekunden der Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommt. Kirsten Bruhn erinnert nicht mehr jedes Detail des Unfalls. Ihr damaliger Freund, der das Motorrad steuerte, war gerade dabei, die Linkskurve anzufahren, als ihm mehrere Autos entgegenkamen, die etwas auf seine Spur gedriftet waren. Er musste plötzlich ausweichen und kam ins Schlingern. Er steht sofort wieder auf. Kirsten Bruhn nie wieder.

Es folgt eine Kette von Ereignissen, die ihr noch heute manchmal wie eine Verschwörung des Universums erscheint. Kein Notarzt ist zur Stelle, der die nötige Erstversorgung vornehmen könnte. An Händen und Füßen heben sie Helfer auf ein eilig herbeigerufenes Militärfahrzeug, mit dem sie zu einer medizinischen Station gefahren wird. Auf Kos, wo Hippokrates vor rund 2.500 Jahren die wissenschaftliche Medizin begründete, ist für sie jedoch keine ausreichende medizinische Hilfe zu bekommen.

Ein Flugzeug, das extra aus München einfliegt, um sie nach Kiel ins Krankenhaus zu bringen, hat einen Schaden an der Vorderachse. Eine zweite Maschine wird gerufen. Wieder verstreicht wichtige Zeit. Als sie endlich in Kiel im Krankenhaus von Spezialisten untersucht wird, sind mehr als zwölf Stunden seit dem Unfall vergangen.

Kirsten Bruhn verbindet ihre gefühllosen Füße, weil sie oft bei der Wende mit ihnen gegen die Wand schlägt.

„Bei einer vernünftigen Erstversorgung wäre die Verletzung weniger gravierend gewesen“, sagt sie voller Überzeugung. Es folgt eine Operation. Als sie aufwacht, eröffnet ihr der Arzt mit schmucklosen Worten: „Das mit dem Gehen können Sie vergessen“. Inkomplette Querschnittlähmung Höhe LWK1/BWK12, nach Trümmerfraktur des 1. Lendenwirbelkörpers (LWK), lautet die ärztliche Diagnose. Sie fühlt zwar noch etwas auf der Vorderseite der Oberschenkel, aber Rückseite und Füße sind taub. Stehen ist nur kurz und an Krücken möglich.

Mut machen, Ängste nehmen ist ihr Beruf

All ihre Pläne, dahin. Sie wollte in Hamburg Grafik-Design studieren. „Ich bin ein visueller Mensch. Ich will selber attraktiv sein“, sagt sie. Und Schön-Sein und Behinderung, das passt für viele Menschen nicht zusammen, sagt sie. Sie weiß natürlich, dass das nicht stimmt. Dass sie selbst der lebende Gegenbeweis für diese These ist, sieht sie nicht. Aber die Geschichte einer Querschnittlähmung handelt eben fast immer nur vordergründig allein von einem verletzten Körper, meistens ist es auch die Geschichte einer angeschlagenen Seele. „Ich schaue in den Spiegel und könnte heulen“, sagt sie. Noch 26 Jahre nach dem Unfall.

Paradoxerweise ist es ihr Beruf, Mut zu machen, Ängste zu nehmen, Vorurteile abzubauen. Als Botschafterin für Reha & Sport des Berliner Unfallkrankenhauses hält sie Vorträge in Schulen, Universitäten, Verbänden und Firmen über Themen wie Krankheit, Behinderung und Tod.

Sie fährt im Auto (eine Spezialanfertigung) durch Deutschland, vorsichtiger seit dem Unfall, aber noch genauso gern wie früher, und zeigt Menschen Wege auf, mit Behinderungen fertig zu werden, nach Rückschlägen wieder auf die Beine zu kommen, gibt Ratschläge, wie man den Körper länger fit hält, sich gesund ernährt.

Ihre Fitness hat ihr damals nach dem Unfall geholfen, ins Leben zurückzufinden. Auch im Davor war sie eine durchtrainierte und talentierte Schwimmerin. Ihr Vater, ein Polizist und leidenschaftlicher Schwimmer, hat sie trainiert. Er und die gesamte Familie, die Mutter und ihre vier Geschwister, sind die Konstanten, die sie ins Danach gerettet haben. „Ohne meine Familie hätte ich es wohl nicht geschafft“, sagt sie und lässt offen, was das genau bedeutet.

Zu viele Erinnerungen im 1. Stock

Als sie nach sieben Monaten aus dem Krankenhaus kommt, zieht sie zurück ins Elternhaus nach Neumünster. „Das war alles andere als behindertengerecht“, erinnert sie sich. Sie wohnt nur noch im Erdgeschoss. Einmal kriecht sie auf allen Vieren in ihr altes Zimmer. Zu viele Erinnerungen da oben im 1. Stock. Sie verkriecht sich wieder in ihre Einsamkeit.

„Der schlimmste Tag meines Lebens war der Grund für den besten Tag.“

Die Gruppentherapie im Krankenhaus bricht sie ab, „weil man da nur über Dinge redet, die nicht mehr funktionieren“. Zwei Jahre lang geht sie nicht in die Stadt, weil sie die Blicke der Menschen nicht erträgt. Mit ihrem Freund bleibt sie noch fünf Jahre zusammen. „Ihn plagten starke Schuldgefühle, und ich dachte, ich bekomme keinen anderen mehr ab.“ Seit der Trennung haben sie sich nur einmal gesehen, aber kein Wort miteinander geredet.

Ihre Familie hat noch einen anderen Schock zu verdauen. Zur selben Zeit kämpft ihr Bruder nach einer Herztransplantation um sein Leben. Sie dachte sich: „Wenn er das schafft, dann schaffe ich das auch.“ Und er schaffte es.

Auf einer Kur kommt die Wende

Kirsten Bruhn durchzieht mit ruhigen Zügen die 50-Meter-Bahn im Olympiastützpunkt. Wasser ist ihr Element. Weil der Auftrieb der Erdanziehungskraft entgegenwirkt, wird im Wasser jeder Körper leichter. Und das Leben scheinbar auch. Hier kennt man sie, bewundert sie. Den Rollstuhl beachtet niemand. Hier tankt sie Kraft. Kein Wunder, dass in einem Schwimmbad die Wende kam.

Eine lächelnde Kirsten Bruhn. Hinter der Brille sieht es manchmal anders aus

2002 geht sie auf Kur. Jeden Abend entspannt sie sich dort beim Schwimmen. Ein Betreuer stoppte die Zeit. „Du bist schnell. Sehr schnell“, sagt er zu ihr. Ob sie nicht bei Wettbewerben starten wolle? Ihr erster Gedanke: „Nicht mit Behinderten.“ Ihr Vater fragt, was sie zu verlieren habe. Danach geht alles sehr schnell. Nach zehn Wochen intensiven Trainings holt sie zwei zweite und einen dritten Platz bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften. Ein Jahr später folgt der erste Weltrekord. Das war für sie die Qualifikation für die Paralympischen Spiele in Athen 2004. Ausgerechnet Griechenland.

Sie gewinnt Gold über 100 Meter Brust und noch drei weitere Medaillen. Als ihr die Goldmedaille umgehängt wird, durchfährt sie ein Gedanke: „Der schlimmste Tag meines Lebens war der Grund für den besten Tag.“ Diesen Gedanken hält sie fest. Es folgen noch viele gute Tage. Sie wird mehrfach Welt- und Europameisterin, reiht Weltrekord an Weltrekord und wird zur Gallionsfigur des deutschen Behindertensports.

Vier Jahr später in Peking gewinnt sie erneut Gold und noch vier weitere Medaillen. Bei der Vorbereitung auf die Paralympischen Spiele in London 2012 wird sie als eine von drei Athleten ein Jahr lang vom einem Kamerateam begleitet, für den Dokumentarfilm „Gold – du kannst mehr als du denkst“. Vieles wird dort wieder aufgewühlt. Wie immer, wenn sie von dem Unfall erzählen muss. 2012 in London steht sie dann noch einmal ganz oben auf dem Podest.

Sie hat wieder Auftrieb

Dennoch gibt es weiterhin Schwankungen, die ihr Leben seit dem Verkehrsunfall bestimmen. Nach wie vor denkt sie manchmal, wäre doch dort auf Kos alles zu Ende gegangen. In dem Film „Gold“ sagt sie in einer Szene: „Zu wissen, du wirst jetzt dein Leben aus dem Sitzen bestreiten, das ist ein Moment, in dem man einfach nur die Augen schließen und nie wieder aufwachen möchte.“

Ihre Nichten und Neffen haben ihr viel an Selbstachtung zurückgegeben, weil die in ihr von Anfang an den Menschen gesehen haben und nicht die Querschnittgelähmte. Ihre Familie ist ein steter Fels. Auch wenn der am Herzen operierte Bruder 2016 doch gestorben ist, und auch die Mutter Anfang dieses Jahres. Bei aller schmerzhaften Trauer stellen diese Rückschläge nicht mehr ihr ganzes Leben infrage. Sie verbringt so viel Zeit wie möglich mit ihrem Vater. Und sie hat sich inzwischen wieder verliebt, in einen Schwimmtrainer der deutschen Behinderten-Nationalmannschaft. Mit ihm lebt sie seit 2012 zusammen in Berlin.

Ihr Lachen kommt tief aus dem Inneren. Nichts an ihr wirkt gespielt oder aufgesetzt. Vielleicht ist sie nur ehrlicher als andere oder sensibler. Sie ist eben nah am Wasser gebaut, wie man so sagt. Es hat lange gedauert, aber sie hat doch wieder Halt gefunden und ist sogar „phasenweise glücklich“.

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Im Wasser fällt ihr alles leichter als an Land

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Kurze Pause von den Anstrengungen des Trainings

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Im Olympiastützpunkt Hohenschönhausen hält sich Kirsten Bruhn immer noch fit

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Im Wasser hat sie immer guten Auftrieb

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Kurzer Heimweg nach dem Training

Kirsten Bruhns sportliche Erfolge:

- 3 x Gold, 4 x Silber, 4 x Bronze bei Paralympischen Spielen

- sechsfache Weltmeisterin

- achtmalige Europameisterin

- 65-fache Deutsche Meisterin

- 2012 Bambi-Gewinnerin in der Kategorie Sport

- Mehr als 60 Weltrekorde auf der 50 Meter-Bahn