Den Spuren auf der Spur

Bremsspuren sind die Narben von Unfällen. Polizisten wie Hanjo Loose „lesen“ sie – und können so rekonstruieren, was passiert ist

 

19.08.2020

Hanjo Loose richtet seine Sonnenbrille und zeigt auf den Straßenrand. Etwa hier ist das Auto von der Fahrbahn abgekommen. Spuren an einem Leitpfosten zeugen von einer Berührung, 32 Meter lang ist die Furche des Reifens im Gras. Eine kleine Bremsspur führt quer über die Straße. „Der war verdammt schnell unterwegs“, sagt Loose und steigt aus dem Polizeiauto.

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Hier landete ein Pizzabote im Maisfeld: Polizist Hanjo Loose verschafft sich einen Überblick.

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Wie weit flogen Splitter und Autoteile? Bei der Unfallaufnahme sind Details wichtig.

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Spuren sprechen eine Sprache: Hanjo Loose versucht sie mit dem Zollstock zu entschlüsseln und mit der Kamera festzuhalten.

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Ergebnis der Spurensuche: Polizist Loose mit einer Karte, die den Pizzaboten-Unfall nachzeichnet.

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Loose fährt privat lieber langsam. Er habe zu oft gesehen, wie es aussieht, wenn zu schnelles Fahren schiefgeht.

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Streifen, die mahnen: Auf Landstraßen ereignen sich die meisten Unfälle mit Todesfolge.

Pizzataxi fährt ins Maisfeld

Loose leitet die Verkehrspolizei im Osten Brandenburgs. Seine Kollegen waren zwei Tage zuvor an diese Unfallstelle geeilt. Kurz hinter Jacobsdorf war ein 22 Jahre alter Pizzabote verunglückt. Sein Kleinwagen schleuderte nach zu rasanter Fahrt quer über die Fahrbahn. Der Pkw überschlug sich, flog über einen Radweg und landete schließlich im Maisfeld. Der Fahrer hatte großes Glück – er wurde nur leicht verletzt. Er war, den Spuren zufolge, schneller als die erlaubten 100 Stundenkilometer.

 

Loose hat einen analytischen Blick für Details. Zwischen den platt gedrückten Maispflanzen liegen noch Glassplitter und kleine Autoteile. Viele Spuren werden jedoch länger sichtbar sein: die Bremsspuren, die wie Narben teilweise über Monate erhalten bleiben. Sie zeugen von Unfällen, brenzligen Situationen und mahnen andere Fahrerinnen und Fahrer zur Vorsicht.

Bremsspuren bestehen nicht aus Gummi

Dass Bremsspuren auch Wochen oder Monate später sichtbar sind, kann Loose einfach erklären. „Viele glauben ja, Bremsspuren seien Gummi auf der Straße. Das stimmt nur zum Teil. Die stärksten Spuren entstehen, weil der blockierende Reifen Hitze erzeugt. Dadurch schwitzt das Bindemittel des Bitumens aus dem Asphalt aus.“ Die hierbei entstehende Einfärbung bleibt vorerst.

 

„In 99,9 Prozent der Fälle ist eine Rekonstruktion eines Unfalls anhand der Spuren möglich.“

Polizei und Sachverständige können sich häufig aus der Vielzahl der Spuren ein exaktes Bild des Unfallhergangs machen. Dieses Bild ist oft genauer als das, was Beteiligte und Zeugen aussagen. „Menschen erinnern sich oft ungenau oder falsch – nicht, weil sie etwas verschweigen wollen. Sie sind nach einem Unfall einfach verwirrt, geschockt und überfordert“, sagt Loose. „In 99,9 Prozent der Fälle ist eine Rekonstruktion eines Unfalls anhand der Spuren möglich.“

Manche Spuren sind geduldig

Entscheidend ist die Aufnahme von kleinsten Details. Polizisten stehen dabei doppelt unter Druck: Sie müssen exakt arbeiten, aber auch schnell. Denn die Straße soll möglichst rasch wieder frei gegeben werden. Bremsspuren sind da verhältnismäßig geduldig. Sie sind kein Hindernis und bleiben lange sichtbar.

 

Als Experte im „Aufdröseln der Spurenlage“, wie er sagt, bezeichnet sich Thomas Gut. Er ist Sachverständiger der Prüforganisation DEKRA. Gerichte und Staatsanwaltschaften fordern seine Dienste an, wenn ein Gutachten nötig ist. Gut und seine rund 400 DEKRA-Kollegen bundesweit kommen oft erst, wenn die Unfallstelle geräumt ist. Viele Bremsspuren sind noch da, aber Gut gibt zu bedenken: „Nicht alles, was man an der Unfallstelle sieht, sind tatsächlich Bremsspuren. Häufig sind es Drift- und Schleuderspuren oder Überrollspuren.“

Was tun, wenn die Bremsspur fehlt?

Sachverständige stehen heutzutage häufig vor zwei Problemen: modernen Autos und undankbaren Fahrbahnen. „Durch moderne ABS-Systeme entstehen oft gar keine Bremsspuren mehr – auch wenn der Fahrer oder die Fahrerin sehr stark bremst“, erzählt Gut. In Sekundenbruchteilen blockieren Reifen, lösen sich, blockieren wieder. Typisch sind deshalb heute gestrichelte Bremsspuren, durchgehende gibt es kaum noch.

 

Manchmal fehlen sie sogar ganz, sagt Gut: „Es gibt Betonfahrbahnen, auf denen sich beim Bremsen gar keine Spuren bilden. Man kann das jedoch nicht pauschalisieren. Es kommt immer auf die Kombination von Fahrbahn, Automodell und Reifentyp an.“ Die Bremsspur sei aber immer nur ein Element der Analyse. Auch Spuren an Gartenzäunen, Bäumen und Leitplanken sowie an den Fahrzeugen selbst verraten viel.

Eine durchgehende Bremsspur gibt es heute kaum noch. Bremsen Autos, die ein Anti-Blockier-System (ABS) haben, entstehen solche gestrichelten Linien wie hier auf der Bundesstraße 87 bei Trebatsch.

Spuren können Lügner entlarven

Der genaue Blick auf Unfallspuren kann auch Lügen entlarven: Anhand der Distanz beispielsweise, in der Glassplitter entfernt vom Punkt des Aufpralls liegen, können Experten im Nachhinein die Geschwindigkeit beim Aufprall errechnen. Was sie auch herausfinden können: Hat der Fahrer tatsächlich geblinkt? Das lässt sich bei manchen Lampen am Glühdraht des Blinkers erkennen. Einmal eingeschaltet, wird er heiß und bricht bei einem Aufprall leichter. Ist der Draht intakt, ist das ein Indiz, dass der Blinker nicht eingeschaltet war.

 

Prallt ein Auto auf einen Fußgänger, entsteht auch dabei eine Art Bremsspur. Beim Aufprall wird das Bein des Fußgängers nach unten gedrückt. Dabei bleibt häufig Abrieb des Schuhs auf dem Asphalt haften. Polizist Hanjo Loose erinnert sich an einen schlimmen Fall von der Autobahn 12, als plötzlich jemand auf der Fahrbahn stand. Ein Lkw-Fahrer konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren.  Anhand des Schuhabriebs konnten die Beamten den exakten Punkt des Aufpralls ermitteln.

Das Mahnmal nach einem schlimmen Unfall: Auf der Bundesstraße 246 nahe dem Ort Telz kam ein Reisebus auf die Gegenfahrbahn. Der Fahrer eines Transporters starb an dieser Stelle. Die Bremsspuren zeugen vom Versuch des Busfahrers, sein Fahrzeug schnell zum Stillstand zu bringen.

Die drei Phasen eines Unfalls

Einleitungsphase: Die Zeit vor dem Aufprall. Ermittler finden später Spuren, die direkt vom Fahrzeug verursacht werden, wozu Bremsspuren zählen.
 

Kollisionsphase: Der Moment der Kollision. Die Karosserie wird eingedrückt, Teile reißen ab, Scheiben und Scheinwerfer splittern.
 

Auslaufphase: Auslaufspuren vom Driften und Schleudern entstehen. Ebenfalls Schlagmarken und Löcher in der Fahrbahn, wenn das Auto von der Wucht des Aufpralls nach unten gedrückt wird.

Loose zeigt in seinem Büro ein Luftbild des Maisfeld-Unfalls: Anhand der Brems- und Schleuderspuren haben seine Kollegen den genauen Weg des Pizzaboten von der Straße bis ins Maisfeld nachgezeichnet. Gerichte, Behörden und die Versicherung können nun, wenn nötig, darauf zurückgreifen. Für die Polizei ist die Sache damit abgeschlossen. Der Pizzabote wird sich hingegen wohl ein Leben lang an den Tag erinnern – und bei den nächsten Bestellungen mit angepasster Geschwindigkeit fahren.

Bilder: Lucas Wahl