Der große Wurf

Gold-Werfer Sebastian Dietz kämpft sich zurück ins Leben.

 

08.07.2016

Sebastian Dietz gilt als Fußballtalent – bis er einen schweren Autounfall verursacht, bei dem ein Mensch stirbt. Er selbst ist seitdem vom Hals abwärts gelähmt und fällt in ein tiefes Loch. Doch er kämpft. Heute kann er wieder laufen und hat als Kugelstoßer und Diskuswerfer WM-Titel abgeräumt. Sogar paralympisches Gold hält er schon in Händen.

 

Wie eine Trophäe reckt Sebastian Dietz die schwere Kugel in die Höhe. Sein Blick ist nach vorn gerichtet, auf einen Punkt irgendwo in der Ferne. Der 31-Jährige konzentriert sich nur auf sich selbst – und auf seinen nächsten Wurf. Einen Moment später klemmt er sich die Vier-Kilo-Kugel unters Kinn, geht leicht in die Knie und wiegt ein paar Mal hin und her. Wie ein Sumoringer, der sich für den Angriff bereit macht. Dann wirbelt er um die eigene Achse und stößt die Kugel mit aller Kraft weg.

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Nach einem schweren Autounfall im Jahr 2004 ist Sebastian Dietz zunächst vom Hals abwärts gelähmt.

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Doch Dietz gibt nicht auf. Nach wochenlanger Physiotherapie verlässt er das Krankenhaus – zu Fuß.

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Eine Teillähmung bleibt. Die Fußballkarriere ist beendet. Dietz entdeckt Diskuswerfen und Kugelstoßen für sich.

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Schnell steigt er in die Nationalmannschaft auf. Bei den Paralympics 2012 gelingt ihm der goldene Wurf.

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Heute möchte Dietz auch anderen Menschen Mut machen, nicht aufzugeben.

Im Fitnessstudio seines Trainers Alexander Holstein in Bad Salzuflen, Nordrhein-Westfalen, hat Sebastian Dietz eine eigene kleine Wurf-Ecke. Sechs Mal in der Woche trainiert er dort. Der teilweise gelähmte Kugelstoßer hat ein großes Ziel: die Paralympischen Spiele in Rio. Vor vier Jahren hat er in London schon einmal Gold geholt – damals allerdings noch im Diskuswerfen. Nun soll der große Coup erneut gelingen, diesmal mit der Kugel.

Ich hatte nicht das Recht, mein Leben einfach wegzuwerfen.

Fit werden für den nächsten Wettkampf

Im Studio ist aber erst einmal Radeln angesagt: Sebastian Dietz schiebt die Kugeln zur Seite und zieht an seinem Handgelenksschutz. Der Klettverschluss löst sich mit einem Ratschen. Sport sei schon immer seine größte Leidenschaft gewesen, sagt er, steigt aufs Trimmrad und tritt in die Pedale. Aus den Lautsprechern im Hintergrund klingt Popmusik.

Begeisterter Sportler von klein auf

In seiner Jugend im rheinland-pfälzischen Neustadt an der Weinstraße spielt Sebastian Dietz Fußball. Mit 17 Jahren wird das vielversprechende Talent Vertragsamateur. Schnell steht für ihn fest, dass er Profi werden will. „Und ich war auf einem guten Weg dahin“, erzählt er.

Der Tag, der alles veränderte

Doch dann kommt der 27. Februar 2004 – der Tag, der alles für immer verändern wird: Der damals 19-Jährige ist mit dem Auto unterwegs. In einer Kurve bricht sein Wagen aus und prallt frontal in den Gegenverkehr. Bis heute hat er keine Erklärung dafür, wie das passieren konnte: „Ich hatte nichts getrunken“, sagt er und blickt gedankenverloren zu Boden. Zu schnell sei er auch nicht gefahren. Und Drogen? „Für einen Leistungssportler undenkbar“, sagt Dietz.

Die Ärzte sagten, ich würde wahrscheinlich für immer gelähmt sein.

In der Uniklinik Mannheim wacht er auf – vom Hals abwärts gelähmt. Mehrere Wirbel sind gebrochen, das Rückenmark verletzt. Die Ärzte haben wenig Hoffnung, dass er überlebt. Doch Sebastian Dietz kämpft. Und übersteht die kritischen Stunden. Die Diagnose bleibt jedoch niederschmetternd: „Sie haben gesagt, ich würde wahrscheinlich ein Pflegefall bleiben, für immer gelähmt sein.“ Und noch eine schlimme Nachricht muss er verkraften: Der andere Autofahrer ist bei dem Unfall gestorben. Sebastian Dietz hält inne, nippt an einem Getränk. „Er war ein guter Bekannter unserer Familie.“

Familie und Freunde geben Rückhalt

Der junge Mann will aufgeben, alles scheint sinnlos. „Aber dann habe ich realisiert, was ich meiner Familie damit antue“, sagt er nachdenklich. „Und ich habe gemerkt, dass ich – der Überlebende – nicht das Recht habe, mein Leben wegzuwerfen.“ Seine Eltern und enge Freunde sind in dieser Zeit immer an seiner Seite. „Wie aufopferungsvoll sie sich um mich gekümmert haben – das werde ich ihnen nie vergessen.“

Sebastian Dietz trainiert noch härter

Dadurch schöpft er neuen Lebensmut. Er will wieder laufen können. Die Ärzte aber halten das für unmöglich. Sebastian Dietz kämpft trotzdem weiter, trainiert intensiv mit seiner Physiotherapeutin. Elf Wochen später verlässt er das Krankenhaus. Zu Fuß.

Nach dem Unfall ist alles anders

Doch einige Schäden sind geblieben. Langsam klettert Sebastian Dietz vom Trimmrad, geht ein Stück durchs Studio, vorbei an Spiegeln, Hantelbänken und Fitnessrädern. Sein linkes Bein zieht er nach. Es ist weiterhin gelähmt. „Auch die linke Hand funktioniert nicht mehr“, sagt er leise.

 

Nach dem Unfall überreden ihn seine Eltern, wieder mit dem Sport anzufangen. Seine Fußballkarriere allerdings ist beendet. Er muss sich neu orientieren – und entdeckt das Kugelstoßen und Diskuswerfen für sich. Er geht ins Ruhrgebiet, findet mit dem TV Wattenscheid einen passenden Verein. Schnell steigt er in die Nationalmannschaft auf, nimmt an der WM teil. Die Paralympischen Spiele 2008 in Peking verpasst er dennoch. „Da hatte ich die falsche Einstellung und habe Fehler gemacht.“

Ich möchte auch anderen Menschen Mut machen, nicht aufzugeben.

Aber 2012 in London, da will er unbedingt dabei sein. Er trainiert noch härter, verzichtet auf Vieles: „Ich habe alles nur noch auf den Sport ausgerichtet.“ Keine Partys mehr, kein spätes Zubettgehen. Er lebt mittlerweile in Ostwestfalen und hat in Alexander Holstein einen Trainer gefunden, der ihn fit macht für die Paralympics.

Gold bei den Paralympics

Im Sommer 2012 beginnen die Spiele – und Sebastian Dietz ist als Diskuswerfer dabei: Sechs Durchgänge stehen an. Schon nach dem ersten steht er auf Platz 1. Was um ihn herum passiert, blendet er aus: Er fragt nicht nach den Weiten seiner Gegner. Und er hört auch nicht die 80.000 jubelnden Menschen im Olympiastadion: „Ich war wie in Trance“, erinnert er sich. Dann, im dritten Durchgang, der goldene Wurf: Dietz schleudert den Diskus 38,54 Meter weit. Keiner seiner Gegner wird diese Weite toppen können. Sebastian Dietz holt Gold. Ein Lächeln huscht über seine Lippen: „Das war für mich der größte Moment meiner Sportlerkarriere.“

Das Leben ist so lebenswert, wie man es sich macht

Dass ein Mensch bei dem Unfall gestorben ist, wird Sebastian Dietz nie vergessen können: „Bei Rechtskurven habe ich noch immer ein flaues Gefühl im Bauch.“ Eine Zeugenaussage entlastet den damals 19-Jährigen. Er sei mit angemessener Geschwindigkeit unterwegs gewesen. Auch ein Gutachten bringt keine Klarheit über die Ursachen des Unfalls. Für Dietz ist seitdem umso mehr klar: „Wenn ich mich hinters Steuer setze gilt: volle Konzentration!“

 

Seine Behinderung habe er angenommen, sagt der schlanke Sportler mit dem breiten Kreuz und geht zurück zu seiner kleinen Wurf-Ecke. Er strahlt Ruhe aus. „Ich möchte auch anderen Menschen Mut machen, nicht aufzugeben. Das Leben ist so lebenswert, wie man es sich selber macht. Und vor allem sollte man es niemals leichtfertig aufs Spiel setzen.“

 

Sebastian Dietz schnappt sich eine weitere Kugel. Er ist bereit für Rio. Für den Angriff auf das nächste paralympische Gold.

 

Fotos: Lucas Wahl