13.07.2016
Nina Wortmann hat 2003 einen schweren Autounfall überlebt. Heute ist sie querschnittsgelähmt — und Model. Die Geschichte einer Frau, die sagt: „Es kommt nicht darauf an, was einem passiert. Wichtig ist, wer man ist.“
Am 12. April 2003 steht Nina Wortmann zum letzten Mal auf ihren eigenen Beinen. Sie setzt ihre kleine Tochter ins Auto und will mit ihr zu Verwandten fahren. Über eine Landstraße führt die Strecke von Anröchte nach Warstein in Nordrhein-Westfalen. Die Route ist vertraut, doch an diesem Tag werden Mutter und Tochter nicht ankommen. Rettungskräfte werden die schwerverletzte Frau und das zweijährige Mädchen aus dem zerquetschten Auto bergen.
In der Maske bereitet sich Nina Wortmann auf einen langen Shooting-Tag vor.
Das Make-up ist dezent. Ein bisschen Wimperntusche, etwas Puder für die Wangen.
Noch ein paar Tupfer mit dem Rouge-Pinsel ... und Nina Wortmann ist bereit für die Foto-Session.
Wenige Minuten bis zum Shooting. Tochter Scarlett und Ehemann Sven (hinten) sind dabei.
Schwarz in schwarz: Fotograf Konstantin Eulenburg setzt auf den Kontrast zwischen Hintergrund und Model.
Kurze Zwischenbilanz: Während des Shootings schauen Wortmann und Eulenburg über die ersten Motive.
„Die sind sehr schön geworden“, sagt Wortmann.
Dann geht es nach draußen. An den Deichtorhallen in Hamburg findet Eulenburg viele Motive.
„Jedes Mal habe ich das Gefühl, du hast ein neues Tattoo“, sagt Eulenburg während des Shootings.
Ein letzter Blick – Nina Wortmann hat alle Fotos, die sie braucht.
Am Tag des Unfalls erhält Sven Wortmann einen Anruf von der Polizei. Es gehe um seine Familie. Angekommen im Krankenhaus erfährt er, dass seine Freundin, die er in einem Monat heiraten will, im OP liegt. Es dauert Stunden bis ein Arzt kommt und ihm mitteilt, was los ist. „Der Doktor sprach viel Latein. Ich sagte ihm: Bitte reden Sie Klartext.“ Es sei ungewiss, ob seine Freundin die Nacht überlebe, sagt der Arzt. Feststehe, dass Nina Wortmann querschnittsgelähmt sei. „Okay, das versteh‘ ich."
13 Jahre später, in einem Hamburger Studio. Konstantin Eulenburg zieht Wände aus schwarzen Tüchern hoch. Er postiert einen Scheinwerfer, justiert seine Kamera. Das Setting, das der Fotograf wählt, ist puristisch. Nichts als schwarzer Hintergrund, dazu passend das Oberteil, das sein Model trägt: ein dunkles Top. Zu sehen sind nur Gesicht, Arme und Schultern. „Heute kommt es mir vollkommen auf dich an“, sagt Eulenburg zu Nina Wortmann. Die 35-Jährige dreht ihren Rollstuhl in die Kamera, zupft ihr Oberteil zurecht und richtet ihre Augen auf den Fotografen.
„Du bist schwerelos.“
„Ja, Nina. Genauso. Du bist schwerelos. Fühl dich frei.“ Klick. „Denk an den schönsten Tag deines Lebens.“ Klick. „Guck mal über deine Schulter. Die sieht aus wie ein kleines UFO, nicht?“ Klick.
Auch als klassisches Model gefragt
Nach mehreren Stunden ist das Shooting vorbei. Nina Wortmann hat viele neue Motive – für ihre Homepage, für Presseanfragen, für Fans. Sie ist Model und wird speziell für Aufträge im Rollstuhlkontext gebucht. Auch als klassisches Model erhält sie Anfragen.
Nina Wortmanns Gesichtszüge sind kantig und weich zugleich. Das Spiel mit der Kamera beherrscht sie mit großer Professionalität. Für eine Frau, die sich früher nie fotografieren ließ, ist das eine bemerkenswerte Wandlung. Obwohl Nina Wortmann nicht mehr laufen kann, sagt sie: „Ich bin frei, alles zu tun, was ich will.“ Ihren Autounfall nennt sie einen „Wendepunkt“. Ihre Einstellung zum Leben habe die Katastrophe zwar nicht verändert: „Aber es war ein Moment, der mich gezwungen hat, mein Leben neu zu ordnen.“
Alles, was mich interessierte, war meine Tochter. Ich war mir sicher: Ich habe sie ermordet.
Als Nina Wortmann im April 2003 auf der Intensivstation aufwacht, ist das erste, worüber sie sich beim Arzt erkundigt, ihre Tochter. Es gehe ihr gut. Nur ein paar Kratzer am Fuß. Festgeschnallt in einen Kindersitz, hat sie den Unfall glimpflich überstanden. Dann erklärt der Arzt seiner Patientin, sie werde nie wieder laufen können. Sie sei vom fünften und sechsten Halswirbel abwärts gelähmt. Die Worte des Arztes nimmt Nina Wortmann aber nicht mehr wahr. „Alles, was mich interessierte, war meine Tochter. Ich war mir sicher: Ich habe sie ermordet.“
Eine Mörderin?
Die Familie hält Tochter Scarlett in den ersten Tagen zurück. Sie ist zu jung, um all das zu begreifen. Sven Wortmann bringt ein paar gemalte Bilder von Scarlett ins Krankenhaus. Er will seiner Freundin beweisen, dass die gemeinsame Tochter noch lebt. „Wegen der vielen Medikamente und Schmerzmittel war ich nicht klar im Kopf. Ich konnte ihm nicht richtig glauben“, sagt Nina Wortmann.
Ein Ball bringt sie zur Verzweiflung
Als Scarlett zum ersten Mal an das Krankenbett ihrer Mutter tritt, begreift Nina Wortmann, dass sie nur sich selbst und niemandem sonst geschadet hat. Der Start in ein neues Leben beginnt mit vielen Übungen. Eine davon: einen kleinen Ball mit der Hand greifen. Anfangs eine wahnwitzige Herausforderung. Sie kann ihre Arme nicht bewegen. Ihre Finger sind gelähmt.
„Ich war frustriert, alles hat mich fertig gemacht“. Wortmanns Mutter kommt jeden Tag ins Krankenhaus und legt ihr den Ball immer wieder in die Hand: „Los, versuch’s.“ Nina verzweifelte. Irgendwann ist der Frust so groß, dass sie den Ball in die Hand nimmt und ihrer Mutter an den Kopf wirft. Der erste Schritt.
Zuhause angekommen, ist es ihre Tochter, die sie an Grenzen bringt. Als Scarlett größer wird, klemmt sie manchmal einen Hausschuh unter den Rollstuhl ihrer Mutter. Entweder Nina Wortmann strengt sich an. Oder sie bleibt den ganzen Tag an einem Fleck. Irgendwann gelingt es, Nina Wortmann beugt sich, streckt den Arm und angelt den Schuh mit der Fingerspitze hervor. Der nächste Schritt.
Im Laufe der Jahre erlangt sie ihre Selbständigkeit nahezu wieder. Doch im Alltag beschäftigt sie eine Frage: „Was machen Behinderte überhaupt?“ Ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin will sie in ihrer Verfassung nicht fortsetzen. Sie entschließt sich, Hausfrau zu werden. Beiläufig entdeckt sie im Internet einen Model-Wettbewerb für Behinderte.
Was machen Behinderte überhaupt?
Was folgt, sind eine Einladung, eine Bühne, eine Jury und ein Platz unter den besten zehn von 250 Bewerberinnen. Während der Show lernt sie einen Mann kennen, der viel Bedeutung für sie haben wird: Konstantin Eulenburg. Der damalige Juror lädt sie in sein Studio nach Hamburg ein. Er macht Fotos, die in Zeitschriften, Broschüren und Online-Anzeigen im ganzen Land erscheinen. Nina Wortmann wird Botschafterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Schirmherrin des Inklusionsvereins „Außergewöhnlich“ und hat diverse Fernsehauftritte.
Ein Fotograf, der kein Geld verlangt
Eulenburg sagt über sich selbst, er sei ein schwermütiger Typ. „Meine Tochter ist manchmal auch so, ein bisschen traurig.“ Eines Tages nimmt der Fotograf seine Tochter mit auf ein Shooting mit Nina und sagt ihr: „Bitte guck dir diese Frau an.“ Was Eulenberg an der 35-Jährigen fasziniert, ist ihre Fröhlichkeit. Er nimmt kein Geld für das, was er für sie tut. „Die Zeit mit ihr bedeutet mir einfach viel“, sagt er.
Rollstuhl-Rugby-Spielerin, Festival-Besucherin
Der Unfall hat Nina Wortmann das Laufen genommen, aber nicht das Vorankommen. Neben ihrer Tätigkeit als Model ist sie Rollstuhl-Rugby-Spielerin und nimmt an Turnieren teil. Immer noch geht sie auf Festivals. Kürzlich besuchte sie mit ihrer Familie das Wacken-Open-Air. Für solche Veranstaltungen hat Sven Wortmann ein motorgetriebenes Rad an ihren Rollstuhl montiert. Damit kommt sie durch die Masse und den Matsch.
„Viele Menschen, die traurig sind, haben den Rollstuhl im Kopf. Ich habe ihn nur unterm Hintern“, sagt Wortmann. Das Geld, das sie bei Model-Jobs verdient, spendet sie. „Es gibt so viele Menschen, denen es schlecht geht. Und mir scheint die Sonne aus dem Po.“ Manchmal aber denkt sie zurück und stellt sich die Frage, was damals geschah. Im Straßenverkehr, so sagt sie, sei sie vorsichtig gewesen. Später versucht sie das Autofahren noch einmal anzugehen – trotz Behinderung. Eine technische Umrüstung würde das ermöglichen. Doch wegen spontan auftretenden Muskelzuckungen in Armen und Beinen, hervorgerufen durch defekte Nervenbahnen, hat sie beschlossen, mit dem Autofahren abzuschließen.
Ich bin selbst Schuld an meinem Schicksal. Und das ist okay.
Ihre Erinnerungen an den 12. April 2003 sind fort. Alles kommt ihr blass und unwirklich vor. Später erfährt sie, dass kein anderes Auto beteiligt ist. Möglicherweise ist sie einen Moment unaufmerksam und kommt von der Fahrbahn ab. Sie streift mit der rechten Seite einen Baum. Das Auto dreht sich und prallt mit der linken Seite gegen einen anderen Baum. Rettungskräfte fräsen das Autodach auf, ein Helikopter bringt Nina Wortmann ins Krankenhaus. „Ich bin selbst Schuld an meinem Schicksal. Und das ist okay“, sag sie später. Der Unfall wirft die Familie aus dem Leben. Alle Pläne stellen sie zurück, auch die Hochzeit. Ein Jahr später aber schließen Sven und Nina Wortmann den Bund der Ehe. „Für uns kam nur ein Datum infrage“, sagt sie. Es ist der 13. August 2004 – ein Freitag.
Fotos: Lucas Wahl