Die Rettungsflieger

Medizinische Soforthilfe entscheidet in vielen Fällen über Leben und Tod. Oft kommt die Rettung von oben. Ein Mitflug.

 

22.01.2018

Die DRF Luftrettung, die früher einmal Deutsche Rettungsflugwacht e. V. hieß, garantiert medizinische Versorgung, wenn es schnell gehen muss – ob bei einem Verkehrsunfall oder einem anderen Unglück. 2016 sind die Hubschrauber der rot-weißen Luftretter deutschlandweit in mehr als 38.000 Fällen abgehoben. Auch das Team der DRF Luftrettung in Magdeburg kämpft gegen die Zeit. Ein Mitflug mit der Besatzung von „Christoph 36“.

Um 9.45 Uhr schrillt das Alarmtelefon zum ersten Mal. Der Notfallsanitäter Thomas Scheffler nimmt ab und erkundigt sich bei der Rettungsleitstelle, was vorgefallen ist. Es geht um einen älteren Mann mit Brustschmerzen. Der Verdacht: Herzinfarkt. Derweil machen sich Pilot Marco Cramme und Notarzt Stefan Gerke abflugbereit. Draußen im Magdeburger Nieselregen wartet der Rettungshubschrauber „Christoph 36“. Alles geht schnell, aber ohne Hektik, ruhig und routiniert. Kurz darauf hebt die rot-weiße EC 135 mit dem Schriftzug „DRF Luftrettung“ ab.

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In der Dämmerung wird „Christoph 36“ auf den Flug vorbereitet.

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Pilot Marco Cramme vollzieht den sogenannten „Preflight-Check“.

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Dabei prüft er den technischen Zustand der Maschine.

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Auch in der Kabine kontrolliert Cramme alle wichtigen Funktionen.

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Dann macht sich das Team bereit. In wenigen Minuten hebt „Christoph 36“ ab.

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Notarzt Stefan Gerke wird zum ersten Einsatzort gebracht

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Gute Aussichten: der Blick über Magdeburg.

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Notarzt Stefan Gerke steht per Headset im ständigen Austausch mit den Kollegen im Cockpit.

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Wieder Boden unter den Füßen: Das Team ist in Rogätz bei Magdeburg gelandet.

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Notfallsanitäter Thomas Scheffler (li.) und Notarzt Stefan Gerke auf dem Weg zum Patienten.

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Notfallsanitäter Thomas Scheffler hält sich permanent auf dem Laufenden und gibt Informationen an die Rettungsleitstelle weiter.

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Bereitschaft auf Knopfdruck: Marco Cramme leitet den Start ein. Der nächste Einsatz steht an.

In wenigen Minuten vor Ort

Zehn Minuten nach Abflug schwebt „Christoph 36“ über der Gemeinde Rogätz nördlich von Magdeburg. Der Patient befindet sich zu Hause. Marco Cramme, der seit 27 Jahren Pilot ist, hält nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau. Schließlich setzt er den Hubschrauber auf einer Koppel am Ortsrand sanft auf den Boden auf. Drei Minuten später ist das Team bei dem Mann, der auf medizinische Notfallhilfe angewiesen ist. Ein Rettungswagen mit Sanitätern ist zwar schon da, doch ein Fahrzeug mit Notarzt ist wegen eines anderen Einsatzes weit entfernt.

Weil der Mann notärztlich versorgt werden muss, hat sich die zuständige Leitstelle für den Hubschrauber entschieden – dem häufig schnellsten Notarztzubringer. „In Sachsen-Anhalt muss ein Rettungswagen mit Sanitätern zwölf Minuten nach Notrufeingang vor Ort sein. Ein Wagen mit Notarzt muss 20 Minuten nach dem Notruf eintreffen“, erklärt Anästhesist Gerke, der erst seit diesem Jahr „auf dem Heli“ ist. Nachdem Gerke und das Team die Erstversorgung übernommen haben, bringt der Krankenwagen den älteren Mann in die Klinik. Denn: „Ein Transport im Hubschrauber war nicht nötig“, sagt der Notarzt. In Rogätz geht es für „Christoph 36“ noch vor dem Abheben in den „Frei über Funk“-Status. Das bedeutet: Der Hubschrauber ist bereit für den nächsten Einsatz.

Der Moment des Abflugs: Die Rotorblätter von „Christoph 36“ bringen die Maschine nach oben

Tragischer Unfall offenbarte Versorgungslücke

Seit 1973 bringt die DRF Luftrettung Notärzte, Notfallsanitäter und Medizintechnik zu Menschen, die schnellstmöglich ärztlich versorgt werden müssen, etwa nach schweren Verkehrsunfällen oder bei anderen Unglücken. Anlass für die Gründung eines Rettungsdienstes aus der Luft war ein tragischer Verkehrsunfall im Mai 1969, bei dem der achtjährige Björn Steiger sein Leben verlor. Die Eltern gründeten daraufhin die Björn-Steiger-Stiftung, deren Initiative 1972 zur Gründung der Deutschen Rettungsflugwacht e. V., dem Vorgänger der DRF Luftrettung, führte. Heute sind an 29 Stationen in ganz Deutschland 50 Maschinen der Luftrettung im Einsatz – mit etwa 640 Notärzten, 160 Piloten, 120 Rettungsassistenten und 120 Technikern.

Vor allem in ländlichen Regionen ist der Hubschrauber oft die letzte Rettung. „Wir decken einen Radius von etwa 60 Kilometern rund um die Station ab“, sagt Pilot Cramme. Mal geht es in den dünn besiedelten Norden Sachsen-Anhalts, mal auf den 1.141 Meter hohen Brocken im Harz. Binnen 15 Minuten erreichen die Retter jeden Einsatzort in diesem Umkreis. „Wir fliegen im Schnitt mit 240 Kilometern pro Stunde, in der Spitze sogar 280 km/h“, sagt Cramme, der zuvor Berufssoldat war. Von den 50 Hubschraubern werden in Magdeburg und Halle drei Maschinen bereit gehalten.

1.711 Notrufe im ersten Halbjahr

In Halle gibt es neben Rettungshubschrauber „Christoph Sachsen-Anhalt“ auch „Christoph Halle“. Gemeinsam mit „Christoph 36“ wurden die drei Maschinen von Januar bis Ende Juni 2017 insgesamt 1.711 Mal eingesetzt. Die Rettungshubschrauber unterscheiden sich unter anderem bezüglich ihrer Einsatzzeiten: Während „Christoph 36“ und "Christoph Halle“ von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang abheben, ist „Christoph Sachsen-Anhalt“ rund um die Uhr im Einsatz. Im ersten Halbjahr 2017 gab es insgesamt 118 Nachteinsätze.

Meist fliegen sie zu Unfallorten

Bundesweit hoben die Hubschrauber der DRF Luftrettung im ersten Halbjahr 2017 fast 18.500 Mal ab. Laut Cramme setzt sich der Hubschrauber häufig wegen Verkehrsunfällen in Bewegung. Auf den nahegelegenen Autobahnen 2 und 14 und den teils vierspurigen Bundesstraßen passiert viel: Von den bundesweit 1.065 Unfällen mit Personenschaden auf der A2 im Jahr 2016 ereigneten sich 160 in Sachsen-Anhalt. Auf der A14 waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamts im gleichen Zeitraum bundesweit 239, in Sachsen-Anhalt 121 Unfälle „mit Personenschaden“.

„Da versuchen einige tatsächlich, irgendwie an uns vorbeizufahren.“

Immer wieder kommt es dort zu Lkw-Unfällen mit Toten und Schwerverletzten. Es werde häufig zu schnell gefahren, kein Sicherheitsabstand eingehalten und riskant überholt, beschreibt der Pilot seine Eindrücke. Ebenfalls bemerkt er häufig Gaffer. Nicht einmal, wenn er mit dem „Heli“ auf der Straße steht, würden die Menschen „ihren Kopf einschalten. Da versuchen einige tatsächlich, irgendwie an uns vorbeizufahren.“ Und auch beim Bilden von Rettungsgassen gebe es bei vielen Fahrern Nachholbedarf. Gerade von oben wird das Fehlverhalten vieler Menschen gut sichtbar.

Wenn die Rettungsgasse fehlt

„Wir sehen das aus der Luft beinahe täglich“, sagt Cramme. Dabei fallen nicht nur Autofahrer negativ auf, sondern auch Lkw-Fahrer. Um eine Rettungsgasse korrekt zu bilden, müssen Fahrer bereits bei stockendem Verkehr reagieren: Befinden sie sich auf der linken Spur, fahren sie an den linken Straßenrand. Fahrer auf allen anderen Fahrbahnen halten sich möglichst weit rechts.

Im „Christoph 36“ fliegen abwechselnd 18 Anästhesisten, vier Notfallsanitäter und drei Piloten. „Die Notfallsanitäter werden von den Johannitern gestellt, die Ärzte vom Universitätsklinikum und dem Klinikum Olvenstedt. Die Piloten sind bei der DRF Luftrettung angestellt“, erklärt Cramme. Die Einteilung folgt Abordnungen und Dienstplänen. Notarzt Gerke arbeitet gern in der Luftrettung. Seine Expertise als Anästhesist und Schmerztherapeut ist in der Kombination ideal. „Wir brauchen keinen Chirurgen und keinen Augenarzt im Heli. Es geht ja vor allem darum, dem Patienten unter anderem die Schmerzen zu nehmen oder zu narkotisieren“, sagt er.

Drei Organisationen, ein Ziel

Die DRF Luftrettung ist neben dem ADAC und der Bundespolizei Teil des flächendeckenden Luftrettungsnetzes in der Primär- und Sekundärrettung. Bei einem Primäreinsatz werden Notarzt und Notfallsanitäter per Hubschrauber zum Notfallort gebracht, um lebensrettende Maßnahmen einzuleiten und die Transportfähigkeit der Patienten herzustellen.

„Beim Sekundäreinsatz wird ein Patient von einem Krankenhaus in ein anderes verlegt“, erklärt Sanitäter Scheffler. „Christoph 36“ ist hauptsächlich im Primäreinsatz tätig, übernimmt aber auch notärztlich begleitete Transportflüge.

Ein Luftretter, der Luft holt: Pilot Marco Cramme bei der Pause.

Spender und Förderer verleihen Flügel

Finanziert wird die DRF Luftrettung von den Krankenkassen, die die geleisteten Flugminuten bezahlen. Die Tarife unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland und werden individuell ausgehandelt. Das trägt aber die DRF Luftrettung nicht vollständig: „Die Kassen zahlen nur entsprechend des gesetzlich vorgeschriebenen Leistungsumfangs. Die DRF Luftrettung investiert jedoch, beispielsweise in neue Hubschrauber oder Medizintechnik“, sagt Cramme. Klar ist: „Ohne Spender und Förderer wäre dies nicht möglich.“ Die DRF Luftrettung besteht aus einem gemeinnützigen Förderverein, einer Stiftung des bürgerlichen Rechts und einer gemeinnützigen AG. Förderer kann jeder werden.

Notfallsanitäter Thomas Scheffler füllt nach einem Einsatz Medikamente auf.

Gegen 14.15 Uhr kommt es zu einem notärztlich begleiteten Transportflug. Eine Verlegung von einem Krankenhaus in der Provinz ins Magdeburger Universitätsklinikum wird angefragt. Eile ist nicht geboten, Umsicht schon. Notarzt Gerke telefoniert mit den Verantwortlichen in beiden Krankenhäusern. Gibt es Besonderheiten? Welche Stationen sind zuständig? Kann ein Rettungswagen vor Ort die Verlegung unterstützen? Dann greift er nach seiner orangefarbene Jacke. Es geht los. Der Einsatz läuft planmäßig ab. Angekommen an der Uniklinik ruft der 38-Jährige seinen Kollegen zu: „Eine 52 Jahre alte Frau mit Herz-Rhythmus-Störungen.“ Kurz darauf übergibt die „Christoph 36“-Besatzung die Patientin an das Personal der Kardiologie.

Kleine Welt: Aus dem Cockpit wirken die Häuser Magdeburgs wie Miniaturen.

15 Stunden Einsatzbereitschaft im Sommer

Der Spätherbsttag geht mit zwei Einsatzflügen zu Ende. „Das ist ungewöhnlich wenig“, sagt Cramme. Der Pilot steht mit einer Kaffeetasse in der Hand bei einem Wandkalender, an dem alle Tageseinsätze des Jahres notiert sind. Meist sind es vier oder fünf, in seltenen Fällen auch mal acht oder neun Einsätze täglich. Im Sommer ist die Station mehr als 15 Stunden besetzt, im Winter etwa zehn. Cramme fliegt im Sommer vier aufeinanderfolgende Tage, im Winter sieben. Anschließend hat er ebenso viele freie Tage. Die Luftrettung ist ein anstrengendes Geschäft mit vielen unterschiedlichen Herausforderungen. Doch die Helfer haben einen bedeutenden Auftrag: Leben retten.