Mehr Sicherheit durch autonomes Fahren?

Welf Stankowitz, Experte für Fahrzeugtechnik, über die Sicherheit im automatisierten und autonomen Verkehr der Zukunft.

 

07.10.2020

Im Interview spricht Welf Stankowitz, Leiter des Referats Fahrzeugtechnik beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) über das automatisierte und autonome Fahren, Assistenzsysteme zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und darüber, wie Verkehrsteilnehmer reagieren, wenn neben ihnen ein autonom fahrendes Auto fährt.

„Intelligente“, automatisiert oder gar autonom fahrende Autos, vernetzte Verkehrssysteme, Unfallfrüherkennung … Glaubt man aktuellen Medienberichten, stehen uns im Hinblick auf den Verkehr goldene Zeiten bevor. Teilen Sie diese Euphorie, Herr Stankowitz?

Ja! Aus unserer Sicht bedeutet die Weiterentwicklung dieser Technologien auch eine Weiterentwicklung der Verkehrssicherheit. Das ist genau das, was wir wollen. Zwar gilt es aufzupassen, dass die Weichen jetzt richtig gestellt werden, aber wir teilen die Euphorie. 

Im Einzelnen betrachtet: Studien zufolge könnten circa 50 Prozent aller Unfälle verhindert werden oder zumindest glimpflicher verlaufen, wenn alle Fahrzeuge mit den derzeit verfügbaren Assistenzsystemen ausgestattet wären. Einen großen Schub in puncto Erhöhung der Verkehrssicherheit werden wir erleben, sobald Autos automatisiert fahren. Und eine weitere, schleichende Verbesserung der Sicherheit wird es durch die Vernetzung der Fahrzeuge untereinander geben.

Automatisiertes Fahren, autonomes Fahren – wo ist der Unterschied?

Experten teilen den Weg zum selbstfahrenden Fahrzeug in fünf Stufen ein:

1. Assistiertes Fahren: Einzelne Systeme unterstützen den Fahrer bei bestimmten Aufgaben. Beispiel: Tempomat. Der Fahrer beherrscht ständig sein Fahrzeug und haftet für Verkehrsverstöße und Schäden.

 

2. Teilautomatisiertes Fahren: Unter bestimmten Bedingungen (beispielsweise auf Autobahnen) hält das Fahrzeug die Spur, bremst oder beschleunigt selbständig. Auch hier hat der Fahrer jederzeit die Kontrolle über sein Fahrzeug und haftet für Verkehrsverstöße und Schäden.

 

3. Hochautomatisiertes Fahren: Das Fahrzeug übernimmt für einen begrenzten Zeitraum einzelne Fahraufgaben. Der Fahrer darf sich vom Verkehrsgeschehen abwenden, muss aber auf Aufforderung durch das System die Kontrolle übernehmen. Tut er dies nicht, haftet er.

 

4. Vollautomatisiertes Fahren: Die Elektronik des Fahrzeugs übernimmt alle Fahraufgaben, der Fahrer wird zum Passagier. Erkennt das System eine Situation, die es nicht bewältigen kann, informiert es den Fahrer. Reagiert der nicht, bringt das System das Fahrzeug sicher zum Stillstand. Der Fahrer kann aber jederzeit die Steuerung übernehmen. Die rechtlichen Aspekte sind hier noch nicht geklärt.

 

5. Fahrerloses (autonomes) Fahren: Das Fahrzeug kann auch ohne Fahrer oder Insassen fahren. Es bewältigt alle Verkehrssituationen. Auch hier sind die rechtlichen Fragen noch nicht geklärt.

 

Denken die in diesem Bereich führenden Unternehmen die Verkehrssicherheit bei ihren Produkten und Konzepten mit oder sehen Sie dabei noch Verbesserungspotenzial?

Gemäß unserer Erfahrung mit den Unternehmen aus Konferenzen, direkten Gesprächen und der Arbeit unserer Ausschüsse – ja, die Unternehmen denken die Verkehrssicherheit auf jeden Fall mit. Klar ist aber auch: Unternehmen sind nicht nur Organisationen, bei denen die Verkehrssicherheit im Vordergrund steht. Sie verfolgen selbstverständlich auch noch andere Ziele. Insofern müssen wir als DVR, aber auch die Bundesregierung, die Europäische Kommission und weitere Organisationen, immer wieder Forderungen an die Unternehmen sowie an ihre Fahrzeuge stellen und Vorgaben machen.

Derzeit werden zum Beispiel die Vorgaben zur „General Safety Regulation“ auf europäischer Ebene diskutiert. Sie beinhalten Anforderungen für künftige Fahrzeuge, etwa wie Notbremsassistenten, intelligente Geschwindigkeitsanpassung oder Abbiegeassistenten für Lkw gestaltet werden sollen.

„Circa 50 Prozent aller Unfälle könnten verhindert werden oder zumindest glimpflicher verlaufen, wenn alle Fahrzeuge mit den derzeit verfügbaren Assistenzsystemen ausgestattet wären.“

Die europäische „General Safety Regulation“ (GSR)

Die GSR enthält Vorgaben über Fahrzeugtechnologien, die zur Erhöhung der Verkehrssicherheit in Europa beitragen. Am 5. Januar 2020 trat die aktuelle Version in Kraft. Sie beinhaltet für alle EU-Mitgliedsstaaten verbindliche Vorschriften wie etwa der Abbiegeassistent für schwere Fahrzeuge. Er ist ab 2022 Pflicht für alle neuen Fahrzeugtypen und ab 2024 für alle neu zugelassenen Fahrzeuge über 3,5 Tonnen.

 

Immer neue, immer hochentwickeltere Fahrzeuge stehen in der Debatte oft im Vordergrund. Muss zukünftig auch die Infrastruktur verändert und angepasst werden?

Thema der Diskussionen der letzten Jahre war, dass hochautomatisiert und irgendwann auch autonom fahrende Fahrzeuge unabhängig von der Art der Infrastruktur, vor allem aber sicher funktionieren müssen. Insofern werden keine besonderen Bedingungen an die Infrastruktur gestellt, abgesehen von den ganz normalen, etwa dass Markierungen erkennbar sein müssen.

Allerdings muss man sagen: Wenn die Infrastruktur dem automatisiert fahrenden Fahrzeug zusätzlich Informationen liefert, dann ist das auf jeden Fall sehr hilfreich und positiv. Selbst mithilfe von Sensoren, Kamerasystemen et cetera kann ein Auto nicht alles selbst erkennen. Denken sie nur an den abbiegenden Lkw, der dabei vielleicht Fußgänger, Radfahrer oder andere nicht sieht. Wenn nun eine Kamera in der Infrastruktur, etwa an der Ampel den Verkehrsverlauf erkennen und Bilder ins Innere des Lkw liefern würde, dann wäre das auf jeden Fall von Vorteil. Grundsätzlich ist das aber keine Bedingung für einen automatisierten Verkehr. 

„Automatisiert fahrende Autos müssen regelgerecht fahren. Und vielleicht tut diese Erkenntnis auch den anderen Autofahrern ganz gut.“

Welche Herausforderungen sehen Sie im Hinblick auf einen in näherer Zukunft zu erwartenden Mischverkehr, der sich sowohl klassisch, als auch teilweise und vollständig automatisiert bewegt?

Ich sehe hier eigentlich keine größeren Herausforderungen. Es wird noch lange Zeit dauern bis Fahrzeuge wirklich größtenteils autonom fahren. Aktuell gibt es aber eine Untersuchung darüber, wie Verkehrsteilnehmer auf automatisiert fahrende Fahrzeuge auf der Autobahn reagieren. Dabei stellte man fest, dass diese keinen größeren Einfluss auf die anderen Fahrenden haben. Es stößt eher auf Verwunderung, dass ein automatisiertes Fahrzeug ordentlich gemäß den Verkehrsregeln fährt, die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht überschreitet oder beim Einscheren und Überholen die gebotenen Abstände einhält. Manche denken dann „Ach, warum fahren die nicht ein bisschen flotter?“. Aber automatisiert fahrende Autos müssen regelgerecht fahren. Und vielleicht tut diese Erkenntnis auch den anderen Autofahrern ganz gut. 


Was allerdings beim Mischverkehr noch hinzukommen kann, sind besondere Situationen. Wenn etwa zwei automatisiert fahrende Fahrzeuge gleichzeitig an einer Kreuzung ankommen. Laut Straßenverkehrs-Ordnung müssen sich die Fahrer untereinander verständigen, wer als erstes fährt. Oder Sie bedeuten per Handzeichen einem Fußgänger, der eine Straße überqueren möchte, dass Sie warten – Wie macht man das mit einem „Roboterauto“?

Sind Fußgänger, Radfahrer und Rollstuhlfahrer im Verkehr der Zukunft gleichberechtigt, oder werden den Menschen in selbständig fahrenden Autos Privilegien eingeräumt?

Derzeit gibt es große Debatten in der Gesellschaft, den Straßenraum zugunsten der Fußgänger und Radfahrer etwas anders aufzuteilen. Besonders in den Städten sollen sie mehr Raum erhalten. Dementsprechend rechnen wir damit, dass Fuß- und Radverkehr zunehmen werden. Automatisiert fahrende Fahrzeuge müssen auf diese Verkehrsteilnehmer dann besonders stark achten.

Anfangs wird man bei der bei der Erprobung der ersten wirklich autonom fahrenden Fahrzeuge sehr vorsichtig sein müssen. Beispielsweise bei autonom fahrenden Kleinbussen, die mit Geschwindigkeiten von 20 bis 30 Kilometern pro Stunde unterwegs sind: Aus Sicherheitsgründen sollten diese nur für in sie freigegebenen Trassen fahren, wo möglichst kein Rad- und kein Fußverkehr ist.

Das bedeutet, wir beginnen mit Testfahrten. Später könnten basierend auf den gemachter Erfahrungen dann weitere Strecken folgen. Insofern wird es im Sinne der Sicherheit in der Infrastruktur und für die anderen Verkehrsteilnehmer Einschränkungen geben, wenn die ersten autonomen Autos fahren. Aber das wird zunächst nur auf bestimmten Strecken erlaubt sein. 

In welche aktuellen oder zukünftigen Technologien setzen Sie die meisten Hoffnungen in Sachen Sicherheit  für alle Verkehrsteilnehmer?


Viele der Fahrzeuge, die heute verkauft werden, haben bereits viele Assistenzsysteme an Bord. Durch die General Safety Regulation auf europäischer Ebene werden ab 2022 beziehungsweise 2024 weitere Assistenzsysteme in den Fahrzeugen verbaut. Hier sehe ich einen ersten sehr großen Schub in Richtung mehr Verkehrssicherheit. 

Den zweiten Schub sehe ich darin, dass für das automatisierte Fahren Systeme nicht nur verbessert werden, sondern auch neue Systeme gebaut werden müssen. Etwa solche, die das Umfeld besser erkennen. Diese Technologien werden peu à peu auch in die herkömmlichen Fahrzeuge Einzug halten und helfen, die Assistenzsysteme zu verbessern.

Und drittens wird, wie eingangs erwähnt, die Verbindung der Fahrzeuge untereinander eine Rolle spielen: Car-to-X. Damit können sich zwei Fahrzeuge auf Kollisionskurs verständigen und die jeweiligen Fahrer informieren – und das noch bevor die Fahrzeuge sich gegenseitig „sehen“, also beispielsweise hinter Böschungen oder engen Kurven hervorkommen. Das gilt natürlich auch für die Verhinderung von Unfällen mit Radfahrern und Fußgängern. Hier ist Car-to-X Kommunikation ein sehr wichtiges Instrument, welches nach und nach in allen Fahrzeugen vorhanden sein wird. 

Car-to-X Kommunikation

Der Begriff bezeichnet den Daten- und Informationsaustausch zwischen Kraftfahrzeugen, der Verkehrsinfrastruktur sowie weiteren Schnittstellen. Diese Technologie soll es im Sinne der Verkehrssicherheit ermöglichen, Gefahrensituationen frühzeitig zu erkennen und zum Beispiel die betroffenen Verkehrsteilnehmer warnen oder den Notbremsassistenten eines Fahrzeugs aktivieren.

 

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