11.07.2016
Die Schauspielerin Christina Hecke ist eine Verfechterin des Leistungsprinzips. Jeden Tag gibt sie Vollgas, bis ein schwerer Autounfall sie ausbremst. Eine Zeit lang ist sogar ihr Leben in Gefahr. Dennoch hegt sie heute keinen Groll gegen den Verursacher. Im Gegenteil.
Nur wenige Minuten von der Hektik des Alexanderplatzes entfernt, liegt ein Ort wie aus der Zeit gefallen. Kopfsteinpflaster und Stuckfassaden erzählen von vergangenen Tagen. Die Menschen schlendern, niemand ist in Eile. Es ist Markt auf dem Kollwitzplatz und die Uhren ticken anders. Vor einem Kräuterstand steht Christina Hecke: schlank, in Bluse und Chino und anmutig wie ein französisches Model. Behutsam reibt sie ein Rosmarinblatt zwischen Daumen und Zeigefinger, schließt die Augen und lässt die Finger zur Nase gleiten. Sie lächelt, als sie den Geruch des Gewürzes einatmet und für einen Moment scheint es, als stünde sie ganz alleine hier im Herzen von Prenzlauer Berg.
Der Tag, der alles verändern sollte
Nichts deutet darauf hin, dass die Schauspielerin („Der letzte Bulle“ „Ein Fall für zwei“), ein Leben auf der Überholspur geführt hat. Dass kein Ziel zu fern und kein Hindernis zu hoch war. Dass nichts schnell genug ging. Schon mit 16 fährt sie Motorrad. Später reist sie nur mit einem Rucksack um die halbe Welt. Springt mit dem Fallschirm aus Flugzeugen. Spielt Theater, als ginge es um ihr Leben. Nach der Vorstellung: Gespräche und Rotwein bis zum Morgengrauen. Zwei, vielleicht drei Stunden Schlaf, dann ist wieder Probe. Pausen gibt es im Leben von Christina Hecke keine. Bis zu diesem Tag, der alles verändern sollte.
„Hol' mich noch nicht jetzt!“ Christina Hecke schildert ihren schweren Autounfall 2007.
Achtsamkeit ist heute das Credo der Schauspielerin. „Multitasking ist ein Mythos.“
Weniger Hektik, mehr Selbstbestimmung: Jeden Donnerstag geht sie auf den Ökomarkt.
Zu 100 Prozent präsent: Christina Hecke im Gespräch mit Kräutergärtner Michael Brodda.
„Im Auto vor dir könnte dein Vater sitzen.“ Christina Hecke plädiert für Achtsamkeit im Verkehr.
Im Dezember 2007 fährt sie bei Stuttgart mit 160 Stundenkilometern auf der Autobahn. „Ich war im fließenden Verkehr unterwegs“, sagt sie. „Trotzdem war das Tempo recht sportlich.“ Plötzlich zieht der Wagen rechts von ihr auf die linke Spur. „Ich hatte überhaupt keine Chance, ihm auszuweichen“, erinnert sich die heute 37-Jährige. Sie macht eine Vollbremsung. Der Wagen gerät ins Schleudern, kracht in die Leitplanke, schießt die Böschung hinauf und fliegt 70 Meter weit durch die Luft. „Hol’ mich noch nicht jetzt!“, schreit sie Richtung Himmel. Nach mehreren Überschlägen kommt der Kombi mitten auf der Autobahn auf dem Dach zum Liegen. „Mir kam Benzin entgegen. Der Motorblock war herausgerissen, der Kofferraum war weg. Da war nur noch eine kleine Kapsel übrig. Und in dieser Kapsel saß ich.“ Noch während sie durch das Seitenfenster aus dem Auto krabbelt, greift die Schauspielerin zum Telefon und ruft im Theater an: „Ich glaube, ich schaffe es nicht zur Vorstellung. Ihr müsst Ersatz besorgen.“ Sie steckt das Handy zurück in die Tasche, betrachtet das Auto, wie es dort auf dem Dach liegt und die Menschen, die mit fuchtelnden Armen auf sie zu laufen. Dann wird es dunkel.
Mit dem Unfall kommt die Achtsamkeit
„Ich war eine Verfechterin des Leistungsprinzips“, sagt Christina Hecke rückblickend. Während sie mit ruhiger Stimme spricht, blickt sie ihrem Gegenüber tief in die Augen. Hört aufmerksam zu. Niemals tut sie zwei Dinge gleichzeitig. Lässt sie den Löffel durch ihre Teetasse kreisen, schweigt sie. Die Frau mit dem schulterlangen, braunen Haar und den braunen Augen ist ganz bei sich.
Nie mehr fremdbestimmt
Wer Christina Hecke anschaut, der kann die Ruhe spüren, die in ihr liegt. „Dabei war es so anstrengend, immer gegen die Uhr zu leben. Immer Erwartungen von Dritten erfüllen zu müssen“, sagt die 37-Jährige über ihr früheres Leben. „Irgendwann habe ich mich gefragt: Warum mache ich das eigentlich? Für wen?“ Doch erst der schwere Unfall zwingt sie zur Langsamkeit.
Über die Endlichkeit des Körpers habe ich erst begriffen, wie wertvoll das Leben ist.
Als sie die Augen wieder aufschlägt, beugt sich ein Polizist zu ihr hinunter und sagt auf Schwäbisch: „Mädle, normalerweis’ fische mir Leiche aus so oim Audo.“ Christina Heckes Lunge ist geplatzt. Zehn Tage lang liegt sie im Koma. Als sie daraus erwacht, machen ihr die Blutreste das Atmen schwer. Drei Monate dauert es, bis sie zurück auf die Bühne kann. Doch zurück in ihr altes Leben kann und will sie nicht.
Eine Veränderung muss her: Weniger Hektik, mehr Selbstbestimmung. Sie stellt ihre Ernährung um, beginnt zu schwimmen, wird Frühaufsteherin. Und vor allem beschließt sie, für jeden Atemzug, den sie macht, die Verantwortung zu übernehmen. „Über die Endlichkeit des Körpers habe ich erst begriffen, wie wertvoll das Leben ist. Sobald ich mich selbst wertschätze, ist es nicht mehr möglich, dass Dritte mich fremdbestimmen. Ich gerate nicht mehr in diese Beschleunigungsspule, die wir alle so gut kennen.“
Keinen Groll gegen den Unfallfahrer
Trotz der schrecklichen Erfahrung sei sie dem Unfallfahrer dankbar, sagt die 37-Jährige. Obwohl die Schauspielerin dessen Wagen noch am Unfallort beschreiben und sich sogar an Teile des Kennzeichens erinnern kann, bleibt eine sofortige Fahndung erfolglos. Bis heute wurde der Fahrer nicht zur Verantwortung gezogen. Trotzdem: Einen Groll hegt Christina Hecke nicht gegen ihn. Der Unfall hat sie Achtsamkeit gelehrt — für sich selbst und das eigene Verhalten. Nicht zuletzt im Straßenverkehr.
Im Nachbarauto könnte deine Freundin sitzen.
2011 gerät die Schauspielerin in einen weiteren Unfall. Sie fährt mit dem Motorrad über eine Kreuzung in Berlin. Ein Linksabbieger nimmt ihr die Vorfahrt, klemmt ihr Bein zwischen Maschine und Kotflügel des Wagens ein. „Mensch, Mädel!“, ruft der Fahrer. „Ick hab dir ja nich jesehen! Jetzt hab ick dir voll umjekoffert!“ Wäre der Berliner achtsamer gefahren, es wären Christina Hecke drei Jahre, in denen sie mit Schmerzen im Bein zu kämpfen hatte, erspart geblieben. Auf das Motorrad steigt sie seitdem nur noch für die Kamera. „Die Wertschätzung für mein Leben bedeutet mir mehr als der Kick durch den Speed.“
Fahren, so ist sie überzeugt, heiße Verantwortung zu übernehmen. Jeder entscheide selbst, ob er das eigene Auto oder Motorrad zur Killermaschine werden lasse. „Im Nachbarauto könnte deine Freundin sitzen. Im Auto hinter dir könnte dein Vater sitzen. Im dem Auto vor dir vielleicht deine zukünftige Ehefrau.“ Christina Hecke blickt einen Moment auf das bunte Treiben im Kollwitzkiez. Dann sagt sie: „Wenn wir alle mit diesem Gedanken unterwegs wären, wir würden so anders Auto fahren.“
Fotos: Lucas Wahl