Vier Sekunden ändern alles
Nach schwerem Unfall als Kind lebt René Heinen heute fast normal.
15.02.2017
Der 5. Juli 1980 veränderte René Heinens Leben für immer. An diesem Tag hatte der heute 38-Jährige einen folgenschweren Verkehrsunfall. Heute geht René selbstbewusst und souverän mit seinem Schicksal um. Doch das war nicht immer so.
An René Heinen fällt zuerst auf, dass er ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Ben Affleck hat. Sein kräftiger Händedruck und seine offenherzige Art machen den 38-Jährigen sofort sympathisch. Wie so oft steht für den gelernten Bürohelfer auch an diesem Donnerstag als erstes Physiotherapie auf dem Programm: Um 8 Uhr morgens auf einem großen Sportgelände mitten in Leverkusen begrüßt René gut gelaunt Dominik Glowienka. Der Physiotherapeut stellt seinen Kaffee ab: „Los geht`s.“
Regelmäßig trainiert René mit Physiotherapeut Dominik Glowienka.
Noch heute kämpft René mit den Folgen eines schweren Verkehrsunfalles in seiner Kindheit.
Ursula Heinen unterstützt ihren Sohn auf dem langen Weg in ein fast normales Leben.
Heute fährt René selbst Auto: Nicht ängstlich, aber aufmerksam.
Seit sechs Monaten kommt René, berichtet Glowienka. Seit 2014 spielt er im Fußball-Nationalteam cerebralgeschädigter Männer des Deutschen Behindertensportverbands. Als Kaderathlet darf er seine Zerrungen bei Glowienka in der Praxis des Bayer 04 physio teams behandeln lassen.
Mehr Sport als jeder andere
René ist Sportler bis zum Exzess: Fußball, Tennis, Tischtennis, 24-Stunden-Schwimmen. „Du machst mehr Sport als jeder andere hier“, sagt Glowienka, während er Renés linken Arm testweise in alle Richtungen bewegt. Und er stellt sich die Frage: „Wie würde es René wohl gehen, wenn er überhaupt keinen Sport triebe?“ An einer Wand des Behandlungsraums steht der Spruch: „Man ist erst besiegt, wenn man sich geschlagen gibt.“
Ein langer Weg bis hierhin
Doch Renés souveränes Auftreten ist längst nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis eines langen und ausdauernden Kampfes. Jedes Stück Normalität hat er sich mühsam zurückerobert. Es gab Phasen in seinem Leben, da hat er gehadert und fast nicht gesprochen.
Vier Sekunden, die alles verändert haben.
Der Unfall passierte am 5. Juli 1980. René war an der Hand seiner Babysitterin in Leverkusen-Küppersteg unterwegs, wo die Familie einen Gerüstbaubetrieb hatte. Seine Mutter Ursula stand auf der anderen Straßenseite. Etwa 60 Meter weiter habe sich ein Motorradfahrer unterhalten, ein junger Fahrer, erinnert sich die heute 69-jährige Mutter.
Der 18-Jährige steigt auf seine Motocross-Maschine, lässt den Motor aufheulen und rast quer über die Straße.„Und René erschrickt sich vor dem Lärm, rennt über die Straße und dem Motorradfahrer vor die Maschine. Er wird hochgeschleudert und fällt auf den Asphalt.“ Dann ist er bewusstlos. Das waren vielleicht vier Sekunden, schätzt Ursula. René sagt es so: „Vier Sekunden, die alles verändert haben.“
Es bleiben irreparable Hirnschäden
An sichtbaren Verletzungen hat René nur zwei unauffällige Narben an der rechten Schläfe zurückbehalten. Sein Gehirn aber hat bleibende Schäden: Die Ärzte sprechen von einem „Schädelhirntrauma mit diffusem Axonschaden zweiten Grades“. Das heißt, dass durch den Aufprall Nervenfasern zerrissen sind.
Regelmäßige Physiotherapie verbessert die Fehlhaltung
Außerdem hat er eine spinale Spastik der quergestreiften Muskulatur. Durch die dauerhaft erhöhte Muskelspannung hat René eine leichte Fehlhaltung, erklärt Physiotherapeut Glowienka. „Die Haltung selbst kann ich nicht verändern – aber ich kann die Funktion verbessern.“
Motorradfahrer kommt frei
Das Verfahren gegen den jungen Motorradfahrer stellten die Richter damals wegen Geringfügigkeit ein. Renés Mutter Ursula, die vom Gericht 50 Prozent der Schuld angelastet bekam, meint, dass er sich nicht verantwortlich fühlte: „Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört.“
Jahrelang kämpft Ursula Heinen für ihren Sohn
Sie, René, der Bruder und der Vater waren indes dauerhaft mit den Unfallfolgen konfrontiert. Ein halbes Jahr blieb René im Krankenhaus. Und es gab Komplikationen. Während der Zweijährige im Koma lag, wuchs seine Luftröhre zu. Die Ärzte machten einen Luftröhrenschnitt, der jahrelang offen blieb. Mit diesem Loch im Hals konnte René nicht sprechen.
Das Sprechen musste René wieder neu lernen
Anfangs entwickelt René eine Ersatzsprache aus Schnalzen und Gestikulieren, um sich zu verständigen. Erst rund 40 Eingriffe und mehrere Jahre später hat er wieder eine funktionsfähige Luftröhre. Mit etwa einem Drittel des durchschnittlichen Durchmessers, erklärt Ursula Heinen.
Noch immer klingt René heiser, wenn er spricht. Viel und unbefangen redet er trotzdem. Vor allem dann, wenn er sich sicher fühlt. Dann begrüßt er beispielsweise einen Anrufer mit seinem trockenen Charme: „Hallo Unbekannt, wir rufen zurück oder Sie rufen zurück. Wir können jetzt nicht.“
Dass René heute so sportlich ist, grenzt an ein Wunder.
Auch das Selbstvertrauen kehrt zurück
Ein wichtiger Wendepunkt kam 2012 mit dem Kontakt zur Hannelore Kohl Stiftung für Verletzte mit Schäden des Zentralen Nervensystems in Bonn. Die Mitarbeiter dort behandelten René ganz unbefangen. Sie luden ihn zu einem Fußball-Workshop ein. Von da an hat er immer mehr zu sich gestanden. Die Mitarbeiter der Hannelore Kohl Stiftung hätten ihm vermittelt, dass er Vertrauen haben könne, sagt René. Und er habe gesehen, „Andere haben auch so was, damit kann man leben.“
Als Nationalspieler in Portugal: „Ein guter Moment“
Seit 2014 spielt René in der Nationalmannschaft der Menschen mit erworbenen cerebralen Schäden. Die hätte es ohne ihn und sein Umfeld vielleicht gar nicht gegeben. 2013 stand die Anmeldung zum Sichtungsturnier auf der Kippe, erzählt Ursula Heinen.
Weil 3.500 Euro fehlten. Sie, ihr Lebensgefährte, René und sein Bruder warben das Geld mit teils schrägen Ideen ein. Ursulas Nachbar etwa kaufte ihr für 1.000 Euro ihre Tannenwipfel ab, die seiner Solaranlage in der Sonne waren. Über das Turnier in Portugal selbst sagt René: „War ganz gut, war aufregend. Ein guter Moment.“ Die Fußballmannschaft ist seitdem ein gemeinsames Projekt von René und seiner Mutter. Ursula würde sich gern bei Bayer Leverkusen für eine Patenschaft einsetzen. René sagt mit Blick auf die knappe Teamkasse: „Wir bräuchten vielleicht einen Auftritt im Aktuellen Sportstudio.“
Geben Sie die Hoffnung nicht auf!
Mit nunmehr 38 Jahren hat René Ziele und einen positiven Umgang mit seinem Schicksal gefunden. „Geben Sie die Hoffnung nicht auf!“, sagt Ursula allen jungen Unfallopfern und deren Eltern. Heute fällt es ohnehin schwer, René in erster Linie als Opfer zu sehen. Auch im Straßenverkehr bewegt er sich ohne Angst. Schon seit vielen Jahren fährt er selbst Auto. Unbefangen, aber aufmerksam. Und für mehr Vorsicht, sagt René, möchte er auch andere Menschen sensibilisieren – nicht zuletzt mit seiner eigenen Geschichte.
Fotos: Lucas Wahl