Zwischen Arbeit und Angst: „Was mache ich hier?“

Unfälle an Baustellen: Runter vom Gas hat einen Bautrupp begleitet.

 

05.03.2019

Pascal Zich (32) blinzelt in die Sonne, während er seinen Helm ablegt und zielstrebig Richtung Lkw geht. Sein Arbeitstag an der Großbaustelle A7 in Hamburg und Schleswig-Holstein geht zu Ende, nun freut er sich auf den Feierabend. Bauarbeiter Zich war heute auf Höhe der Autobahnausfahrt Stellingen eingeteilt. Dicht neben dem vorbeirauschenden Autobahnverkehr fräste er mit seinem Team den Asphalt. Alles lief glatt an diesem sonnigen Tag. Keine Selbstverständlichkeit für die Arbeiter, die oft nur eine Armlänge entfernt von ungeduldigen Autofahrern tätig sind.

Baustellen erfordern höchste Aufmerksamkeit aller Verkehrsteilnehmer – und ein angepasstes Tempo.

Rücksichtnahme – oft Fehlanzeige

„Natürlich ist es manchmal ganz schön heikel, wenn man sich wie wir mitten im Verkehrsgeschehen befindet“, erzählt Pascal Zich, der vor sechs Jahren seinen ursprünglich erlernten Beruf als Einzelhandelskaufmann an den Nagel gehängt hat, um fortan draußen auf Baustellen zu arbeiten. Er gesteht: „Bereut habe ich den Schritt nie. Aber wenn ich sehe, wie Autofahrer in der engsten Stelle einer Baustelle ihr Handy benutzen oder wir angepöbelt werden, weil alles nicht schnell genug geht, dann frage ich mich schon manchmal – was mache ich hier eigentlich? Und wünsche mir mehr Rücksicht!“ 

Bauarbeiter Pascal Zich an der A7-Baustelle in Hamburg-Schnelsen

Sichtbarkeit – die Lebensversicherung für Bauarbeiter

Der Tag von Pascal Zich beginnt in der Regel morgens um sieben Uhr. Der junge Familienvater ist neben den beiden Baustellenfahrstreifen Richtung Norden beschäftigt. Was er genau tut: Er fräst den Untergrund, damit später ein neuer Straßenbelag aufgetragen werden kann. Alle Männer des Straßenbau-Teams sind in grellem Orange hinter den großzügigen Absperrungen unterwegs. Die wetterfeste Kleidung sowie das Zubehör mit reflektierendem und fluoreszierendem Material sind so massiv, dass sie alle ein wenig wie „Michelin-Männchen“ wirken. Sie fallen wirklich auf zwischen Baggern, Beton und schwerem Gerät. „Hauptsache, wir werden gesehen“, ist unter den Kollegen aus den Bautrupps ein gängiger Spruch. Und es ist wichtig: Denn manche Fahrer reduzieren in der Baustelle nicht ausreichend ihr Tempo, nehmen die Verkehrszeichen nicht wahr oder weichen notfalls auf die Standspur aus. Umso wichtiger also, dass die Arbeiter so sichtbar wie möglich sind. 

20 Tote und 2.899 Verletzte registrierte die Polizei 2017 bei Unfällen im Baustellenbereich auf Autobahnen.

Dauerbaustelle A7 – ein Mammutprojekt

Der Ausbau der A7 nördlich des Elbtunnels ist ein Mammutprojekt. Schon seit 2014 schieben sich Autos durch zahlreiche Baustellen. Die A7 ist nicht nur eine klassische Ferienautobahn, sondern auch eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen Deutschlands und Europas. In den Hamburger Stadtteilen Stellingen, Schnelsen und Bahrenfeld/Othmarschen entstehen Tunnel (in Hamburg auch „Deckel“ genannt) sowie eine neue Brücke. Das riesige Areal ist Dauerbaustelle, bei laufendem Verkehr! Rund 150.000 Fahrzeuge drängeln sich täglich über die A7. Oft wechselnde Verkehrsführungen in der Großbaustelle erschweren die Orientierung der Verkehrsteilnehmer. 

Wird am Straßenrand gearbeitet, sind diverse Sicherheitsmaßnahmen für den Schutz der Arbeiter vorgesehen: So sind auf dreispurigen Autobahnen immer drei Sprinter-Fahrzeuge als „Vorwarner“ aufzustellen. „Damit frühzeitig das Tempo gedrosselt wird. Und wir nicht im letzten Augenblick zur Seite springen müssen“, erklärt Pascal Zich. Ist die rechte Spur aufgrund von Bauarbeiten schmaler als 3,25 Meter, die Fahrbahnoberfläche stark beschädigt oder wenn das Gefälle der Autobahn mehr als vier Prozent aufweist darf maximal Tempo 60 gefahren werden. Sonst gilt Tempo 80. In engen Passagen voll konzentriert zu fahren, ist absolut notwendig – auch wenn die Geschwindigkeiten geringer sind. Schließlich erfordern die Änderung von Fahrspuren sowie die Verkehrsschilder, die den Verkehr leiten, volle Aufmerksamkeit.

Großbaustelle auf der A7 in Hamburg. Hier wird seit 2014 gebaut

Einfädeln – so geht´s

„Bloß keinen reinlassen – jetzt bin ich aber mal dran!“ Nach diesem Prinzip kann das Reißverschlussverfahren natürlich nicht funktionieren. Richtig ist: Fällt ein Fahrstreifen weg, müssen sich die Fahrzeuge abwechselnd hintereinander auf dem verbleibenden Fahrstreifen einordnen. Fahren Sie möglichst weit bis zum Hindernis oder zum Ende des Fahrstreifens vor, da zu frühes Einfädeln einen Stau verursachen kann. Zeigen Sie den Spurwechsel per Blinker an. Befinden Sie sich auf dem weiterführenden Fahrstreifen, müssen Sie die anderen Autos einfädeln lassen. 

Koordinator Christian Merl überwacht die Deckel-Baustelle an der A7

Zickzack-Fahren bringt keinen Zeitgewinn

Pascal Zich läuft noch einmal den schmalen Gang neben der Autobahn entlang, als ihm ein Coupé auffällt, das trotz verengter Fahrstreifen im Zickzack andere Autos überholt und hektisch immer wieder einschert. „So ein Fahrstil bringt definitiv nix“, räsoniert der Schleswig-Holsteiner trocken, „schneller kommt der auch nicht ans Ziel!“ Aber: Der Coupé-Fahrer gefährdet natürlich andere Verkehrsteilnehmer, die Arbeiter auf der Baustelle und obendrein sich selbst. Immer wieder kommt es vor, dass sich Autos nicht rechtzeitig in die richtige Fahrspur einsortieren – und mit viel zu hohem Tempo auf der verengten linken Spur in den Baustellenbereich rasen. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit genügt, und ein Bakenfuß (das sind die rot-weißen Absperrungen mit Fußplatte) wird zum gefährlichen Hindernis. „Pkw und Lkw katapultieren diese Leitbaken meterweit und quer über mehrere Spuren. Supergefährlich für jeden, der sich in der Nähe aufhält“, weiß Pascal Zich. Er kennt Kollegen, die derartige Geschosse schon haben fliegen sehen.

Versetzt fahren

In Baustellen kommt es häufig zu Unfällen, weil nebeneinander fahrende Fahrzeuge kollidieren. Der seitliche Zusammenstoß ist laut Statistik die zweithäufigste Unfallursache in Autobahnbaustellen. Um sicher durch Baustellen zu kommen, wird daher versetztes Fahren empfohlen. So lässt sich „Tuchfühlung“ mit anderen Autos vermeiden. Wenn Sie verengte oder behelfsmäßige Fahrstreifen passieren, sollten Sie zudem, wenn möglich, nicht überholen. In vielen Baustellen ist die linke Spur um bis zu 50 Zentimeter schmaler als die rechte. Die Fahrzeugbreite inklusive der Außenspiegel der gängigsten Automodelle hat der ADAC hier zusammengestellt. Auch die Einhaltung des Sicherheitsabstands zum vorderen Fahrzeug ist in Baustellen besonders wichtig.

Achtung, verkürzte Auffahrt!

Vorsicht bei Autobahnauffahrten im Baustellenbereich. Hier ist der Beschleunigungsstreifen in der Regel stark verkürzt oder fehlt ganz. Auffahrende müssen dies berücksichtigen, ihr Tempo frühzeitig anpassen und notfalls auf dem Beschleunigungsstreifen stoppen. Im Gegenzug sollten andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen und den Auffahrenden das sichere Einfädeln gewähren. Natürlich nur, ohne den nachfolgenden Verkehr zu gefährden. Lichtzeichen helfen bei der Verständigung. Und: Beim Auffahren auf die Autobahn gilt das Reißverschlussverfahren nicht! Umso wichtiger ist es, den Beschleunigungsstreifen bis zum Ende zu nutzen und sich nicht mit verminderter Geschwindigkeit in den fließenden Verkehr hineinzudrängeln und die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer zum Abbremsen zu zwingen.

Verkehrsfluss beeinflussen

Wie Unfallzahlen verringert und der Verkehrsfluss trotz Baustellen günstig beeinflusst werden kann – damit hat sich Christian Merl als Verkehrskoordinator A7 ausgiebig beschäftigt. Mit einem Baustellenwagen ist Merl gerade an der Zufahrt zum A7-Deckel in Stellingen angekommen. Zusammen mit seiner Kollegin Karina Fischer will er vor Ort prüfen, ob sich die jüngst umgestellte Verkehrsführung gut etabliert hat.  

Die Mammutbaustelle auf der A7: Die Fahrbahndecken sind schon abgetragen

Neues Verkehrsschild entworfen

„An der Ausfahrt Stellingen haben wir ein halbes Jahr miterlebt, wie lange es dauert, bis neue Verkehrsführungen akzeptiert werden. Als alles nichts half und immer wieder Fahrstreifenwechsel die Autofahrer überforderten und es verstärkt zu Unfällen kam haben wir zusammen mit der Straßenverkehrsbehörde kurzerhand ein Verkehrsschild selbst entworfen“, erzählt Karina Fischer, zuständig für die Projektsteuerung A7 Nord. Sogenannte Piktogramme (die Autos und Richtungspfeile zeigen) haben schließlich dafür gesorgt, dass sich die Verkehrsteilnehmer frühzeitig in die für sie richtige Spur einsortieren. „Mit 900 Pendlern pro Stunde, die in Stellingen abfahren, ist diese Ausfahrt ein echter Hotspot“, ergänzt Christian Merl. 

Weniger Tempo = weniger Stau

Um weniger Staus und eine bessere Durchfahrt zu gewährleisten, startete die Hansestadt im vergangenen Jahr ein Experiment: Auf der A7 südlich des Elbtunnels – also weit vor der eigentlichen Baustelle – wurde je nach Verkehrsaufkommen die maximal erlaubte Höchstgeschwindigkeit in Richtung Norden auf Tempo 80 gedrosselt. „Allein dadurch konnte die Staulage im Elbtunnel halbiert und damit das Unfallrisiko erheblich minimiert werden. Dank der Geschwindigkeitsbegrenzung kommen die Autofahrer insgesamt sogar schneller voran“, freut sich Verkehrskoordinator Christian Merl. Was paradox klingt, ist Realität: Der Verkehr fließt deutlich besser, es kommt zu weniger Staus und damit sinkt die Unfallgefahr in diesem Bereich deutlich. Auch auf die Baustelle hat das Experiment erfreuliche Auswirkungen: Lkw können viel leichter im Gesamtverkehr „mitschwimmen“, das gesamte Netz wird dadurch entlastet. Hektische Spurwechsel und plötzliches Bremsen werden minimiert, die Gefahr von Unfällen sinkt. 

Die A7 wird in mehreren Abschnitten auf Hamburger Stadtgebiet überdacht. Hier ist der „Deckel“ fast fertig

Ein mulmiges Gefühl bleibt

Auch André Schlüter (35) kennt die Angst vor nicht angepasster Geschwindigkeit im Baustellenbereich. Schlüter ist Straßenwärter und für die Kontrolle der A7 in diesem Abschnitt zuständig: „Wenn wir erleben, wie kurz vor der Baustelle noch rasant überholt wird und teilweise nur ein Meter Abstand zu uns am Straßenrand gehalten wird, hält man schon die Luft an.“ Ein ungutes Gefühl, was passieren könnte, wenn das Fahren mit unangepasster Geschwindigkeit einmal nicht glimpflich ausgeht, hat Schlüter auf jeden Fall. „Man darf das aber nicht immer präsent haben“, so der vierfache Familienvater, „sonst könnte ich meinen Job gar nicht machen.“

Streckenposten André Schlüter bei einem seiner Kontrollgänge

Verkehr wie ein Erdbeben

Immer noch ein zweites Mal hinschauen und sich vergewissern, dass die Spur auch wirklich frei ist – so lautet die tägliche Devise der Bautrupps und Straßenwärter, wenn sie dicht an der Fahrbahn arbeiten. Zum eigenen Schutz gibt es neben entsprechenden Absperrungen weitere Sicherheitstricks: „Unseren Lkw stellen wir als eine Art Rammbock auf den Standstreifen – wenn wir dort beispielsweise mit dem Mähgerät arbeiten“, berichtet André Schlüter. Heute ist er mal wieder Streckenkontrolle gefahren. Die enormen Erschütterungen, wenn ein Lkw seinen Wagen passiert, rütteln ihn und seine Teamkollegen spürbar durch. Das ganze Auto vibriert und schwankt. „Wenn wir zu Fuß draußen und direkt neben der Fahrspur unterwegs sind, fühlt sich der Verkehr wie ein Erdbeben an.“

Die Verkehrsführung von Ausfahrten auf mehrere Wochen dauernden Autobahnbaustellen wechselt häufig.

800 Engpässe jährlich auf deutschen Autobahnen

Fahren mit unangepasster Geschwindigkeit führt auch an Baustellen immer wieder zu gefährlichen Situationen. Das belegt auch die Unfallstatistik. Immerhin 800 Baustellen auf deutschen Autobahnen und damit Sicherheitsengpässe gibt es im Schnitt jährlich auf deutschen Autobahnen. Wenn es aufgrund nicht angepassten Tempos kracht, hat das nach wie vor die schlimmsten Unfallfolgen. Eine Dekra-Umfrage von 2016 hat zudem ergeben, dass sich knapp die Hälfte der befragten Verkehrsteilnehmer in Autobahnbaustellen nicht sicher fühlt, jeder fünfte Fahrer verspürt sogar regelrecht Angst. Das zu schnelle Fahren der anderen Verkehrsteilnehmer ist für 78 Prozent der Befragten die größte Sorge. Mehr als zwei Drittel meiden die linke Fahrspur am liebsten grundsätzlich.

Schilder sagen mehr als das Navi

Grundsätzlich wird sehr früh mit entsprechenden Warnhinweisen und Schildern auf Verkehrsänderungen hingewiesen. „Schauen Sie immer auf die Beschilderung und nicht aufs Navi“, rät Verkehrskoordinatorin Karina Fischer in diesem Zusammenhang. Erst vor kurzem hat sie an einer Baustelle erlebt, wie ein Autofahrer zum dritten Mal den Engpass durchfuhr. Ehe er verzweifelt durchs Fenster fragte, warum sein Navigationssystem ihn eigentlich so konsequent fehlleite.

Bilder: Klaus Becker